Branaghs Muster, bestehendes Material durch Opulenz aufzuwerten, zieht sich durch sein gesamtes Werk als Regisseur. Vor sechs Jahren ließ er den Orientexpress durch Landschaften fahren, die es vielleicht in Mittelerde gibt, aber nirgendwo entlang der Strecke dieses Zugs, bevor die Protagonisten dann auf der älteren Schwester der Golden-Gate-Bridge rumturnen mussten. Und das alles, um davon abzulenken, dass die erste Verfilmung aus dem Jahr 1974 bis heute perfekt ist. Erst letztes Jahr ließ Branagh dann ein prachtvolles Schiff voller wunderschöner Menschen an ägyptischen Landschaften vorbeiziehen, die selbst zur Zeit der Pharaonen nicht so wunderschön aussahen wie in diesem Film.
So wie Friedensreich Hundertwasser seine Gebäude und Gegenstände mehr oder weniger immer auf die gleiche Art „behübscht“ hat, so hat Kenneth Branagh die von ihm inszenierten Filme, die fast ausnahmslos immer Verfilmungen bereits bestehender Vorlagen waren, mehr als drei Jahrzehnte mehr oder weniger immer auf die gleiche Art „opulentisiert“. Und dann muss etwas passiert sein, womit keiner rechnen konnte. Kenneth Branagh muss sein eigenes Muster erkannt haben! Und er versucht es mit „A Haunting in Venice“ zu durchbrechen!
Denn statt das ganze Setting wieder so opulent als möglich zu gestalten, gestaltet er es diesmal so düster als möglich. Zunächst beginnt der Film, wie man es von einem Kenneth-Branagh-Film erwarten würde. Hercule Poirot lebt in einem Palazzo in Venedig, der bereits 1947 ungefähr so viel gekostet haben muss wie Luxemburg. Wir bekommen gezeigt, wie er sich weigert neue Fälle anzunehmen. Warum wird im Film nie so richtig erklärt und auch nicht, wovon der Detektiv dann seinen lächerlich opulenten Lebensstil bestreitet.
Es bleibt noch opulent, wenn jeder Gast ihn einer eigenen Gondel zu einer Party in einem verfluchten und düsteren Palazzo anreist. Dieser Palazzo ist nicht einfach nur düster. Er ist beschissener beleuchtet als die Höhle von „The Batman“ (Robert Pattinson, nicht Adam West). Und weil Kenneth Branagh meine Kritik zu „The Boogeyman“ nie gelesen hat, hat er die Dunkelheit genutzt um diesmal statt eines Krimis so etwas Ähnliches wie einen Gruselfilm zu drehen.
Autor Michael Green hat viel Erfahrung darin, Drehbücher auf der Grundlage vorhandenen Materials zu verfassen. Mit „Logan - The Wolverine“ ist ihm das großartig gelungen. Seine Adaptionen von „Tod auf dem Nil“ und „Ruf der Wildnis“ funktionierten durchaus. Aber Green hat auch an den Drehbüchern von „Blade Runner 2049“, „Alien: Covenant“ und „Green Lantern“ mitgeschrieben. Und was er sich für „A Haunting in Venice“ ausgedacht hat, erinnert eher an „Blade Runner 2049“ als an „Logan - The Wolverine“.
Ich halte Agatha Christie seit langem für überschätzt. Wie erwähnt, laufen die Handlungen ihrer Bücher zu 90% nach dem gleichen Muster ab. Die Pläne ihrer Mörder sind immer unnötig kompliziert. Und ihre Figuren reden immer viel zu viel und geben damit unnötig viele Hinweise. Aber Michael Green schafft es mit seiner verworrenen, absurden und unentschlossenen Vielleicht-Grusel-Vielleicht-Auch-Nicht-Geschichte, dass man sich die Formelhaftigkeit Agatha Christies zurückwünscht.
Die Handlung von „A Haunting Venice“ ist kompletter Unsinn. Nichts davon würde so oder so ähnlich funktionieren. Ich will nicht zu viel verraten. Aber die Identität der Person, die eine Erpressung betrieben hat, mit der eine andere, extrem wohlhabende Person innerhalb kurzer Zeit an den Rand des Ruins getrieben wurde, sorgt für einen der bizarrsten WTF-Momente der Filmgeschichte. Verglichen damit fallen die vielen anderen Ungereimtheiten dieses Films, wie italienische Kinder, die 1947 Halloween feiern oder ein Meisterdetektiv, der nicht kapiert, dass dampfendes Wasser heiß ist, kaum noch ins Gewicht.
There is so much pain here
Was bedeutet das für die Darsteller*innen, die eine lächerlich absurde Geschichte im Dunkeln darzustellen haben? Fast jeder und jede von ihnen haben in anderen Filmen gezeigt, was sie können. Hier bekommen sie dazu keinerlei Gelegenheit.
Die großartige Michelle Yeoh hat dieses Jahr den Oscar für „Everything Everywhere All At Once“ verliehen bekommen. Hier zieht sie eine Zirkusnummer ab. Tina Fey ist eine der witzigsten Frauen Hollywoods, hat aber in Filmen wie „Whiskey Tang Foxtrott“ auch ihr dramatisches Talent gezeigt. Hier spielt sie eine Rolle, die weder ihr komisches noch ihr dramatisches oder sonst irgendein Talent erkennen lässt.
Kelly Reilly hat in „Flight“ eine grandiose Leistung gezeigt. Hier erinnert ihre Darstellung leider an die von Elizabeth Taylor in „Mord im Spiegel“. Camille Cottin ist in Frankreich ein Star und hat bisher nur kleine Rollen in internationalen Filmen wie „House of Gucci“ gespielt. Hier muss sie ständig die richtigen Informationen zum richtigen Zeitpunkt aufsagen. Das wird ihr vermutlich nicht zum Durchbruch verhelfen.
Jamie Dornan konnte mich bisher in keinem Film von seinem Talent überzeugen. Das kann aber auch daran liegen, dass ich ihn bisher nur in furchtbaren Machwerken wie „Fifty Shades of Grey – Befreite Lust“ und „Robin Hood“ gesehen habe. Seine Rolle in „A Haunting in Venice“ ist ein weiterer Fehlgriff. Riccardo Scamarcio ist in Italien ein Star. Wir kennen in vielleicht aus „John Wick: Kapitel 2“. Sein Part als Leibwächter hier ist ein reines Handlungselement. Und genauso spielt Scamarcio diese Rolle auch.
Das einzig Bemerkenswerte an Kenneth Branaghs Gestaltung seiner Rolle des Hercule Poirot ist sein Schnurrbart. Der ist im neuen Film blond, obwohl er in den beiden vorangegangenen Filmen, die viele Jahre vorher spielen, grau war. Sonst gibt es über diese passable Imitation eines verwirrten, älteren Herren aus Belgien nicht viel zu sagen.