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Kritik: Deep Sea

sub kritik
 
Autor: Walter Hummer
 
In deutschen Kinos laufen nur selten Filme aus der Volksrepublik China. Und noch seltener laufen bei uns chinesische Animationsfilme. Dieser Film hat den Anspruch, das zu ändern ...
 
Hast Du heute schon gelächelt?
 
Die kleine Shenxiu hat es schwer. Die Mutter hat die Familie vor langer Zeit verlassen. Der Vater hat wieder geheiratet und nun hat das Mädchen auch noch einen kleinen Halbbruder. Der ist zwar lieb und kann nichts dafür. Aber natürlich richtet sich die Aufmerksamkeit des Vaters nun vor allem auf den kleinen Bruder. Auf einer Kreuzfahrt mit der Familie bekommt Shenxiu endlich das Meer zu sehen. Aber dann fällt das Mädchen über Bord und gelangt in eine ganz besondere Welt ...
 
Das Wichtigste zuerst: weite Teile von „Deep Sea“ (Originaltitel „Shēn Hǎi“ oder „深海“) sind wunderschön anzusehen. Manche Panoramen erinnern an Gemälde von impressionistischen Malern. Andere Szenerien erinnern an Werke des fantastischen Realismus. Aber bereits die frühen Szenen in der grauen Realität sind meisterlich gestaltet. Wir bekommen die Depression der jungen Heldin vermittelt, indem wir sehen, wie ihre Umwelt für sie aussieht. Alles wirkt grau und fade. Die Menschen um sie herum sind unförmige, unscharfe Gestalten.
 
In diesen Anfangsszenen benutzt Regisseur Tian Xiaopeng Tiefenschärfe wie in einem Realfilm, um uns zu zeigen, welcher Teil des Bildes sich gerade tatsächlich im Fokus befindet. Sobald Shenxiu aber die Welt des Tiefseerestaurants erreicht hat, sind alle Bilder mit Gestalten, Farben und Formen überladen. Ständig wuseln überlebensgroße anthropomorphe Walrösser und normalgroße aber bunte Otter als Personal durch das bunte Schiff um Fischmenschen zu bekochen und zu bedienen. Die vieläugige, ständig ihre Form verändernde Hyjinx und ein rotes Phantom fegen immer wieder durchs Geschehen.
 
 
Nanhe, der Besitzer des Tiefseerestaurants wirkt wie ein Bruder des verrückten Hutmachers, ein Cousin von Fagin und wenigstens ein Schwippschwager von Pennywise. Die Figur lässt sich lange Zeit nicht richtig einschätzen. Auch er bereichert das bunte Treiben, wenn er den ohnehin bereits bunten Alltag an Bord des Tiefseerestaurants durch die Projektion von bunten Filmen aus allen möglichen Winkeln auf alle möglichen Oberflächen noch bunter gestaltet. Der wirklich wunderschön anzusehende Film wird zum wilden Farbenspiel, zum buchstäblich bunten Treiben. Und genau das stellt eines der Hauptprobleme dieses Films dar.
 
Echte Cineasten (und nur solche lesen fantasticmovies.de, haha) kennen diese spezielle Art von Film, der unbedingt „anspruchsvoll“ sein will. Bei dieser Art von Film kann man sich richtig vorstellen, wie die Macher sich bereits vor Drehbeginn auf das Ziel verständigt haben, Gremien wie der Deutschen Film- und Medienbewertung (FBW) Prädikate wie „wertvoll“ (!) oder „besonders wertvoll“ (!!) zu entlocken oder besser noch, den Film im Wettbewerb der großen Filmfestivals laufen zu lassen (!!!) und dort im Idealfall vielleicht sogar den einen oder anderen Preis abzusahnen (!!!!).
 
In Hollywood haben solche Filme immer „anspruchsvolle“ Themen. Ich gönne Julianne Moore ihren Oscar vom ganzen Herzen. Aber sie hätte diese Auszeichnung für eine ganze Reihe von Filmen verdient, angefangen bei „Boogie Nights“ über „Magnolia“ und noch lange nicht endend mit „Gloria“. „Still Alice“ war eine furchtbare Schmonzette, die wegen eines „anspruchsvollen“ Themas als „anspruchsvoll“ wahrgenommen wurde. Ähnliches gilt für „Blind Side“ und Sandra Bullocks Oscar.
 
Eines der besten deutschsprachigen Beispiele für solche Filme ist immer noch „Honig im Kopf“. Til Schweiger wollte als Filmemacher „ernst genommen“ werden und einen Film mit „Anspruch“ machen, also hat er ein „ernstes“ und „anspruchsvolles“ Thema für sein Eitelkeitsprojekt gewählt. Und weite Teile der deutschen Filmkritik und leider auch des Publikums sind ihm auf den Leim gegangen. Was soll’s wenn die echten Auswirkungen von Demenzerkrankungen auf Patienten und ihr Umfeld im Film komplett ausgeblendet wurden?
 
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Aber nicht nur „anspruchsvolle“ Themen verleihen den gewünschten „Anspruch“. Manchmal müssen auch die Bilder für ebendiesen Anspruch sorgen. „Ad Astra“ war ein stinklangweiliger Film, dessen Handlung keinen Sinn ergeben hat. Aber die Bilder haben so manchen Kritiker Tiefgang erkennen lassen, wo keiner war. Es gibt Filmemacher, die seit Jahren nur noch schöne Bilder und nur wenig Substanz liefern. Woody Allen und Roman Polański haben in den letzten dreißig Jahren zusammen keine fünf Filme gedreht, die den Preis einer Eintrittskarte wert gewesen wären. Schön anzusehen waren aber fast alle ihre Filme und wurden daher von der Kritik gelobt.
 
Ein zu Recht fast vergessener Film, der „anspruchsvoll“ wirkende Bilder mit einem „anspruchsvollen“ Thema verbunden hat, war „Hinter dem Horizont“ mit dem großartigen Robin Williams. Der hatte damals gerade einen Oscar für „Good Will Hunting“ bekommen. Und offensichtlich wollte man ihm unbedingt eine zweite Statue verschaffen. Also durften er und die wunderbare Anabella Sciorra ihr Talent in einem Film verschwenden, in dem „anspruchsvolle“ Themen wie Depression und Selbstmord (welch schreckliche Ironie) mit „anspruchsvollen“ Bildern zu purem Kitsch vermischt wurden. Vor allem das Gewusel der lächerlich bunten Fantasieszenen war kaum zu ertragen.
 
Ich habe seit vielen Jahren nicht mehr an „Hinter dem Horizont“ gedacht. Und vermutlich geht es den meisten Leser*innen ähnlich. Trotzdem kam mir dieser Film von 1998 immer wieder in den Sinn, während ich „Deep Sea“ gesehen habe (ACHTUNG: Es geht jetzt wieder um den ursprünglichen Film!). Das wirklich wunderschöne, immer bunter werdende Treiben in diesem chinesischen Film von 2023 erinnerte mich mehr als einmal an jenen komplett übertriebenen, fünfundzwanzig Jahre alten Hollywoodfilm. Warum bloß?
 
Weitere, ganz andere Assoziationen kamen mir in den Sinn. Chinesische Militärparaden gehören zu den lächerlichsten und übertriebensten Ereignissen der Welt. Vor einigen Jahren ließ man in Peking nicht nur 15.000 Soldaten aufmarschieren sondern auch singen. Trotzdem wurde das alles bierernst genommen. Man wollte eben „Anspruch“ vermitteln. Der Nationale Volkskongress in China hat 3000 Abgeordnete und tagt in einem Gebäude, das größer ist als mancher internationale Flughafen. Ganz schön viel „Anspruch“ für ein Scheinparlament in einem totalitären Einparteienstaat.
 
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Möge Dein Lächeln immer vom Herzen kommen
 
Warum also lässt mich ein Animationsfilm über ein unglückliches, kleines Mädchen an einen alten, misslungenen Hollywoodfilm, chinesische Militärparaden, den nationalen Volkskongress und die große Halle des Volkes in Peking denken? Weil ich mich bei „Deep Sea“ des Eindrucks nicht erwehren konnte, dieser Film wollte ständig mehr sein als er ist. Dieser Film wollte einen „Anspruch“ erwecken, den er einfach nicht hat.
 
Die Geschichte ist nett. Aber sie fällt weder besonders originell, noch besonders überraschend aus. Und erzählt wird das Ganze recht plump. Die Lehre am Ende wird uns mehrmals haarklein erklärt und trotzdem bleibt der Film in seiner Aussage widersprüchlich. Wenn das Lächeln eines Kindes vom Herzen kommen soll, sollte man das Herz des Kindes nicht besser mit Gründen zum Lächeln füllen? Das Leben der kleinen Shenxiu vor der Kreuzfahrt war ganz objektiv furchtbar. Und buntes Treiben unter Wasser allein ist sicher kein probates Mittel gegen Depressionen und löst auch keine Probleme.
 
Die Figur des Nanhe hilft auch nicht, diese Widersprüchlichkeit zu klären. Als Erwachsener ist mir klar, Nanhe soll wohl sympathisch wirken. Er ist als trauriger Clown gedacht. Wir sollen ihn als zweiten Helden wahrnehmen. Aber als Kind würde mir diese Figur einfach nur Angst machen. Bereits sein erstes Auftauchen in der Realität wird kleinere Kinder sicher erschrecken.
 
In seinem Tiefseerestaurant gebärdet Nanhe sich abwechselnd wie ein psychopatischer Manipulator oder ein irrer Derwisch. Die Software für die Bewegungen dieser Figur wurde ganz merkwürdig programmiert. Abgehackt wirken seine Bewegungen, wie die eines mechanischen Affen. Der Mund ist viel, viel zu breit und die gruselige Clownsschminke verstärkt den unheimlichen Effekt noch. Ich hatte mehr als einmal Angst, diese Figur würde dem kleinen Mädchen gleich den Arm abbeißen und sie in die Kanalisation ziehen. Dieser Nanhe soll wohl sympathisch wirken. Während des größten Teils des Films wirkt er auf europäisches Publikum aber eher beunruhigend und unheimlich.
 
Der Verleih ist sich der Unterschiede in den Sehgewohnheiten europäischer und ostasiatischer Filmfans ganz offensichtlich bewusst. Wer die originalen, chinesischen Trailer zu diesem Film mit den Trailern des deutschen Verleihs vergleicht, muss denken, hier würden zwei verschiedene Filme beworben. Interessant ist, dass die Figur des Nanhe im deutschen Trailer praktisch gar nicht vorkommt und auch im chinesischen Trailer nur Sekundenbruchteile zu sehen ist. Die unheimliche Wirkung dieser zweiten Hauptfigur wäre wohl zu viel gewesen und hätte das Publikum überfordert.
 
Und irgendwann im Laufe der 112 Minuten des Films werden dann auch all die bunten Bilder zu viel und überfordern einen. Es hätte mich nicht überrascht, wenn die schillernden Farben irgendwann an der Kleidung der Heldin kleben geblieben wären, wie damals bei Robin Williams in der Kitsch-Version des Jenseits. Wirklich anspruchsvolle Filme erinnern uns in der Regel an andere, noch bessere Filme. Wenn einen ein Film an einen komplett misslungenen Film, aber auch an Militärparaden und den nationalen Volkskongress erinnert, ist sein Anspruch vielleicht nur bunte Tünche über wenig Substanz.
 
Fazit
 
Für kleinere Kinder ist dieser Film sicher ungeeignet. Für Filmfans, die ihre Grundschulzeit bereits hinter sich haben, kann der Film durchaus interessant sein. Aber am Ende ist dieser visuell überladene Film vielleicht einfach ein bisschen viel für westliche Sehgewohnheiten. Vielleicht will dieser Film einfach zu viel „Anspruch“ erwecken.
 
 
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