Matthew Vaughns neuer Film erinnert in mancher Hinsicht an einige seiner früheren Werke. Der Film weißt aber auch eine Besonderheit auf, die gerne zum Trend werden könnte ...
Light up, light up, ...
Elly Conway ist die Autorin einer Reihe von Bestsellern, in denen der Spezialagent „Argylle“ internationale Verschwörungen zu bekämpfen hat. Ohne sich dessen bewusst zu sein, beschreibt Elly in ihren Büchern aber immer wieder Teile einer echten internationalen Verschwörung. Daher sind ihr bald echte Geheimagenten und echte Killer auf den Fersen. Zum Glück erhält Elly Hilfe. Aber dann ist für die Autorin plötzlich gar nichts mehr wie es bisher schien ...
Matthew Vaughn hat bisher die unterschiedlichsten Filme inszeniert. Sein Erstling „Layer Cake“ war ein effektiver, aber noch etwas rauher Gangsterfilm, der Daniel Craig für die Rolle des James Bond empfohlen hat. „Der Sternenwanderer“ hatte Schwächen, steckte aber so voller origineller Ideen, dass er eine willkommene Abwechslung zu den vielen generischen Fantasy-Verfilmungen der früher 2000er Jahre bot. „Kick-Ass“ mit seiner Gewalt u.a. gegen eine Zwölfjährige war sicher starker Tobak, aber vielleicht genau das, was das Comic-Helden-Genre damals brauchte. Die „Kingsman“-Filme sind alle nicht perfekt. Aber sie werden u.a. als zynisch und frauenfeindlich kritisiert, weil viele Leute nicht verstehen, wie zynisch und frauenfeindlich das Genre ist, über das sie sich lustig machen.
Matthew Vaughn ist einer der wenigen Regisseure, der populäre, kommerzielle Genrefilme dreht und sich dabei auch mal aus dem Fenster lehnt und sich etwas traut. Vaughn verfolgt in seinen Filmen Ideen und Konzepte konsequent weiter als andere Filmemacher. In seinen Filmen wird auch mal eine Zwölfjährige von ihrem Vater angeschossen, weil man Nachwuchs-Superhelden nunmal nicht mit Waldorf-Methoden ausbilden kann. Und daher stellt eine Prinzessin einem Agenten als Lohn für die Rettung der Menschheit auch schon mal Analverkehr in Aussicht.
Auch „Argylle“ bietet wieder vieles von dem, was wir von Matthew Vaughn gewohnt sind. Die Szenen, die Passagen aus den von der Heldin verfassten Bestsellern wiedergeben, bieten einen bizarren Hochglanzlook und komplett unrealistische Action-Einlagen, die jeder Physik wiedersprechen. Und in der Realität des Filmes wird es recht flott schmutzig und brutal, wenn ein Agent der geschockten Elly den Auftrag gibt, auf dem Boden liegenden Gegnern die Köpfe zu zertreten und ihr auch noch erklärt, wie sie das anzustellen hat.
Diese und andere skurrile Szenen werden im Laufe der Handlung Sinn ergeben. Dafür sorgt das unterhaltsame Drehbuch von Jason Fuchs, der zuletzt am Drehbuch von „Wonder Woman“ mitgearbeitet hat, einem der besten Filme der letzten Jahre mit weiblicher (Super-)Heldin. Das Drehbuch liefert auch jede Menge wirklich witzige Gags, die Matthew Vaughn visuell bestens umsetzt.
(Kleiner Hinweis für besonders aufmerksame Filmfans: Achtet auf die Marke der Getränkedose, die in den Szenen in den Kensington Gardens vor der Heldin auf einem Picknicktisch steht. Der Name eines Pubs in der mid-credit-scene sollte auch etwas zum Klingeln bringen.)
Matthew Vaughn inszeniert brutale Szenen so, dass sie trotzdem witzig sind. Und er inszeniert witzige Szenen so, dass sie die Handlung trotzdem vorantreiben. Natürlich sind die Story von „Argylle“ absurd und die Verwicklungen haarsträubend. Aber innerhalb des Films ergibt alles Sinn. Sowohl die komischen als auch die brutalen Einlagen (von den Telefonaten mit der überkontrollierenden Mutter zu den Tanzszenen mit und ohne Schusswaffen) sind nie Selbstzweck, sie dienen der Handlung.
Louder, louder, ...
Und wie immer bei Matthew Vaughn ist die Besetzung erstklassig. John Cena („The Suicide Sqaud“) macht, was er am besten kann und liefert einige nette Gags in einer kleinen Rolle als Side-Kick des fiktiven Helden „Argylle“. Henry Cavill („Man of Steel“) parodiert die Rolle, die zu spielen er geboren wurde und man fragt sich wieder einmal, wie lange die Produzenten der James-Bond-Filme noch brauchen, um endlich das Naheliegende zu tun und ihn zu verpflichten. Der Mann wird doch auch nicht jünger.
Wenn John Cena in „Argylle“ macht, was er am besten kann, macht Samuel L. Jackson in dem Film das, was nur er so kann wie er es kann. Er spielt wieder mal eine Variation dessen, was in „Pulp Fiction“ auf seiner Brieftasche stand. Diesmal ist es eine sehr feinsinnige, fast sanfte Variation, aber Sam Jackson ist und bleibt der B. M. F.!
Die großartige Catherine O’Hara war vor 35 Jahren eine furchtbare Mutter in „Beetlejuice“ und hat sich kurze Zeit später in „Kevin - Allein zu Haus“ auch nicht mit Ruhm bekleckert. Hier bereichert sie den Film in einigen kleinen, aber wichtigen Szenen als Mutter, deren Qualitäten sich im Laufe des Films noch herausstellen werden. Der großartige Bryan Cranston („Breaking Bad“, „Trumbo“) ist hervorragend wie immer und auch für eine Überraschung gut.
Sam Rockwell ist einer der besten und vielseitigsten Schauspieler Hollywoods. Er war ein großartiger Komödiant in Filmen wie „Galaxy Quest“ oder „Iron Man 2“, ein noch großartigerer dramatischer Darsteller in Filmen wie dem unterschätzen „Moon“ oder „Three Billboards ...“ und er kombiniert diese beiden Stärken immer wieder in Filmen wie „Jojo Rabbit“ oder „See How They Run ...“. Aber so gut er in „Argylle“ auch ist. Seine Partnerin ist besser.
Bryce Dallas Howard wurde mit M. Night Shyamalans erstem künstlerischen Fehlschlag „The Village“ bekannt. Dass ihre damals noch junge Karriere auch noch den Totalschaden „Das Mädchen aus dem Wasser“ überlebt hat, spricht nicht nur für ihre schauspielerischen Qualitäten bereits in jungen Jahren. Einige Jahre später mokierte sich das Publikum über die Frau, die in „Jurassic World“ im blütenweißen Kleid auf High Heels vor einem Tyrannosaurus Rex herlief. Dazwischen hat Bryce Dallas Howard z.B. im gut gemeinten, aber leider schlecht gemachten „The Help“ eine großartige dramatische und gleichzeitig komische Leistung gezeigt.
In „Argylle“ zeigt sie eine ihrer besten Leistungen bisher. Nur sie macht es dem Publikum möglich, die skurrilen Wendungen der Geschichte nachzuvollziehen und zu akzeptieren. Sie lässt uns die Verzweiflung und Verwirrung ihrer Figur ebenso erleben wie ihre Entschlossenheit in späteren Szenen und auch die Entwicklung dazwischen. Bryce Dallas Howard ist die Heldin der Geschichte und der unangefochtene Star des Films.
As if you have a choice …
Ich kann mich nicht erinnern, in einer meiner Rezensionen jemals über das Gewicht oder die Figur einer Darstellerin geschrieben zu haben. Ich bin mir wohl bewusst, wie heikel dieses Thema sein kann. Ich möchte die Leser*innen bitten, Nachsicht zu haben. Es gibt einen Grund, warum ich im Fall von „Argylle“ darauf kommen möchte.
Bryce Dallas Howard ist nicht nur eine kompetente Darstellerin sondern auch, wie in Hollywood nicht unüblich, eine überaus attraktive Frau. Allerdings hat sie im Laufe der letzten Jahre einiges an Gewicht zugelegt. Das ist ihr gutes Recht. So wie Gwyneth Paltrow sich gerne weiterhin von Knochenbrühe und Infusionen ernähren darf. Jeder Mensch soll so leben, wie er oder sie sich wohlfühlt. Das muss ganz selbstverständlich auch für Hollywoodschauspielerinnen gelten.
Als ich Bryce Dallas Howard vor einigen Jahren in “Rocketman” als Elton Johns Mutter gesehen habe, fand ich es schade, dass diese vielseitige Darstellerin wegen ihrer mittlerweile etwas kräftigeren Figur in Zukunft wohl nur noch die Rollen von Müttern oder besten Freundinnen spielen würde. Ja, sie war dann auch noch in „Jurassic World: Ein neues Zeitalter“ zu sehen. Aber dieser Film war ein „cattle call“ in dem ohnehin jeder aufzutreten hatte, der jemals in irgendeinem der Beiträge zur Serie eine tragende Rolle gespielt hatte und noch nicht gefressen worden war.
In „Argylle“ spielt Bryce Dallas Howard nun die Heldin in einer hochkarätigen Action-Komödie. Und nein, es sieht überhaupt nicht so aus, als hätte sie sich dafür vorher monatelang von einem Team von Diätexperten und Personal Trainern quälen lassen. In der ersten Hälfte des Filmes sehen wir sie in Jeans herumlaufen, die gar keinen Zweifel daran lassen, dass dieser attraktiven Frau ihr Essen schmeckt. Im dritten Akt trägt die Darstellerin ein goldenes Abendkleid, das unter anderem bildhübsche aber durchaus recht kräftige Beine erkennen lässt.
Und all das ist gut so! Mehr als das, es ist toll wenn endlich mal eine normalgebaute Frau die Heldin in einem Big-Budget Hollywoodfilm ist! Und es ist sogar fantastisch, dass im Film kein einziges Mal das Gewicht oder die Figur der Heldin angesprochen wird. „Argylle“ ist einfach ein Film, in dem die Hauptfigur eine Frau ist, die auch wie eine ganz normale Frau aussieht. Punkt. Das ist nicht „body positivity“. Das ist „body normality“. Und wir können nur hoffen, dass andere Filmemacher sich diesem Trend anschließen.
Allerdings drängt sich die Frage auf, welches Problem der Verleih mit diesem großartigen Ansatz hat. Im Trailer zum Film wird die Hauptdarstellerin nur für den Bruchteil einer Sekunde in der Totalen gezeigt, während Sam Rockwell in Zeitlupe herumhüpfen darf. In einer kurzen Einstellung aus dem Finale des Films sind die Bilder eindeutig manipuliert und die Heldin wirkt konventionell gertenschlank. Das offizielle Filmplakat ist eine Frechheit! Darauf wurde die Hauptdarstellerin von den Marketingexperten sogar hinter Dua Lippa plaziert, die im Film gerade mal einen Cameo-Auftritt hat.
Was soll dieser für die Hauptdarstellerin beleidigende Etikettenschwindel? Was nützen die besten Entscheidungen der Filmemacher, wenn bereits der Verleih diese nicht mitträgt? Wie soll dieser Trend das Publikum erreichen? Wieder einmal wird ein Film, der etwas anders ist, nicht so propagiert, wie es ihm gebührt. Marketingabteilungen haben doch die Aufgabe, das Publikum über neue Filme zu informieren und Interesse zu erwecken. Im Fall von „Argylle“ hat man das Thema verfehlt und ist an der Aufgabe gescheitert.
Fazit
„Argylle“ ist eine witzige, spannende Actionkomödie mit einigen wirklich originellen Einfällen. Der absolute Star des Films ist Bryce Dallas Howard, die im doppelten Sinne des Wortes eine ganz besonders gute Figur macht.