Dass die Entwicklung eines Teenagers so nachvollziehbar gezeigt wird, liegt sicher zum Teil auch an der literarischen Vorlage. Joe Hill, der Autor der Kurzgeschichte, auf der das Drehbuch von Scott Derrickson und C. Robert Cargill (ebenfalls „Sinister“ und „Doctor Strange“) basiert, schreibt unter einem Künstlernamen. Geboren wurde er als Joe Hillström King und seine Eltern sind ebenfalls Schriftsteller. Seine Mutter Tabitha King wurde unter anderem durch die Bücher rund um Nodd’s Ridge bekannt. Und sein Papa Stephen ist immer dann am besten, wenn er über junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden schreibt. Vielleicht ist Talent doch erblich?
Wenn ich bisher gar nicht erwähnt habe, dass „The Black Phone“ ein Horror-Thriller ist, dann weil dieser Film als Drama so hervorragend funktioniert. Weil der Film nicht Teil einer Serie ist, kann er uns eine echte Geschichte erzählen. In wenigen Szenen bekommen wir die schwierige Situation eines Heranwachsenden vermittelt. Wir erfahren eindrücklich den puren Horror, den das Leben mit einem Alkoholiker als Elternteil für Kinder bedeutet. Und das alles lange bevor Finney entführt wird.
Was Finney nach seiner Entführung erlebt, wie er lernen und wachsen muss und wer ihm dabei hilft und auf welche Art und aus welchen Gründen, all das ist wirklich großes Kino. Ich möchte nicht zu viel verraten. Aber hier bekommen aufmerksame Filmfans eines der originellsten und sinnvollsten Konzepte von Geistern Verstorbener vermittelt, das seit langem im Kino zu sehen war. Wenn die Geister sich an immer weniger erinnern können, je länger sie bereits verstorben sind, ergibt das Sinn. Ebenso sinnvoll ist es, wenn sie gar keine so freundlichen Wesen sind und ihre ganz eigene Motivation für ihre Hilfe haben.
Fox on the Run
Bevor ich über die durchwegs sehr guten und in einigen Fällen hervorragenden Leistungen der Darsteller berichte, muss ich den wichtigsten Star des Films würdigen. Der Entführer trägt in diesem Film eine Maske. Diese Maske ist ein Kunstwerk für sich. Sie hat in der Reihe der großen Masken der Filmgeschichte einen Platz verdient. Es gibt Darth Vaders Helm und Atemapparat, Hannibal Lecters Maulkorb, das Make-up von Heath Ledgers Joker und nun gibt es die Maske aus „The Black Phone“.
Diese Maske besteht aus drei Teilen. Der untere Teil der Maske kann vom oberen Teil der Maske getrennt und durch einen anderen Unterteil ersetzt werden. Es kann aber auch nur der untere oder nur der obere Teil getragen werden. Mit diesem verblüffend einfachen aber doch genialen Konzept vermittelt diese Maske eine unberechenbare Bedrohlichkeit, die enorm zur Stimmung des Films beiträgt.
Geschaffen wurde diese Maske übrigens von Tom Savini. Der Mann ist ein langjähriger Experte für günstige aber effektive Masken und Spezialeffekte und hat an Klassikern wie George A. Romeros „Zombie“ oder dem Original „Freitag, der 13.“ mitgearbeitet. Vielleicht weil diese frühen Filme immer zu geringe Budgets hatten, ist er irgendwann auch vor der Kamera zu sehen gewesen. Seine mit Abstand bekannteste Rolle hat auch mit einem Spezialeffekt zu tun. Als „Sex Machine“ in „From Dusk Till Dawn“ hat er eine Hose mit Sonderausstattung getragen.
Zurück zu den Darstellern von „The Black Phone“: Getragen wird diese ganz spezielle Maske von Ethan Hawke. Hawke ist seit seiner Kindheit ein hervorragender Schauspieler. Davon kann man sich seit Jahrzehnten in Filmen „Club der toten Dichter“, „Gattaca“, „Before the Devil Knows, You’re Dead“, „Maudie“ und der Hälfte aller Filme von Richard Linklater überzeugen. In den letzten Jahren hat Hawke aber in einer ganzen Reihe wirklich furchtbarer Filme mitgespielt.
In „The Black Phone“ zeigt Hawke seit beste und überraschendste Leistung seit langem. Wir erfahren nichts über die Vergangenheit seiner Figur und doch wissen wir bald alles was wir wissen müssen. Wir sehen hier einen zutiefst gestörten Geist. Weil er seine Verwirrung nicht mehr vor sich selbst verbergen konnte, hat er die Schuld dafür irgendwann nach außen geschoben und angefangen zu hassen. Dieser Hass hat ihn böse und unberechenbar werden lassen. Das alles vermittelt Hawke vor allem mit seiner Stimme, seiner Körperhaltung und seinen Augen.
Finney Shaw wird von Mason Thames verkörpert. Ich habe diesen jungen Darsteller vorher weder auf der Leinwand noch auf dem Bildschirm gesehen und war zunächst verblüfft und dann begeistert. Thames zeigt eine Leistung, die an den jungen Brad Renfro in „Der Klient“ erinnert. Er spielt selbst schwierige Szenen so natürlich, man meint irgendwann, keinen Schauspieler in einem Film zu sehen, sondern einfach einen realen Teenager in seinem echten Leben zu beobachten.
Finneys kleine Schwester wird von Madeleine McGraw dargestellt, die bereits in mehr als zwanzig Film- und Fernsehproduktionen zu sehen war, darunter „American Sniper“ und „Ant-Man and the Wasp“. Ihr Spiel ist vielleicht nicht sehr subtil. Aber sie vermittelt in ihrer Rolle so viel Kraft und Entschlossenheit, man fragt sich wo diese zarte junge Dame das alles hernimmt. In einem Gebet liefert sie ganz nebenbei mit ebenso echter Empörung wie großartigem Sinn für Timing eine der mit Abstand besten Dialogstellen, die ich seit langem gehört habe.
Jeremy Davies („Der Soldat James Ryan“) als Vater und James Ransone („Es Kapitel 2“) führen die Liste von durch die Bank sehr guten Nebendarstellern an.