Es ist immer gut, an den Horror des Holocaust zu erinnern. Es ist immer gut, wenn Filmemacher künstlerisch neue Wege gehen und einmal etwas ausprobieren.
Heute gab’s zu Mittag Hasenbraten, ...
1965 veröffentlichte Peter Weiss sein Stück „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“. Weiss bediente sich der Originalprotokolle des ersten Frankfurter Auschwitzprozesses und verzichtete sowohl im Text als auch bei der Gestaltung des Stücks auf jede Ausschmückung. Abgesehen von offensichtlicher Kürzung (der Prozess ging damals über 159 Verhandlungstage) wurde der „Text“, also die Aussagen der Zeugen und die Fragen der Juristen, nicht bearbeitet. Die Entlastungsrhetorik der Angeklagten wurde ungefiltert wiedergegeben.
„Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“ war dokumentarisches Theater in seiner reinsten Form und wurde zu einer Zeit uraufgeführt, als diese Kunstform besonders populär war. Aber schon damals, zu seiner Hochzeit, gab es durchaus Kritik am dokumentarischen Theater. Diese hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte verstärkt. Weil ja trotzdem eine Ästhetisierung der Dokumente stattfindet, ja gar nicht ausbleiben kann (Weiss selbst hat die Schauspieler*innen zum Beispiel angewiesen, auf eine realistische Darstellung zu verzichten), weil „Dokumentarisches Theater“ immer noch „Theater“ ist und nichts anderes sein kann, wird dieser Begriff heutzutage als strittiges Theorem interpretiert oder sogar ganz verworfen.
Nach dieser historischen Einordnung und der Klärung einiger Theaterwissenschaftlicher Grundlagen kommen wir nun zu RP Kahls Verfilmung des Stücks von 2024. Ich könnte jetzt darüber schreiben, dass sich Kahls Film den üblichen Maßstäben von Filmkritik entzieht. Ich könnte darüber schreiben, dass Kahls Film gar kein Film im üblichen Sinne des Wortes ist. Nur weil etwas im Kino zu sehen ist, muss es noch kein Film sein. In vergangenen Jahrzehnten wurden zum Beispiel Boxkämpfe im Kino übertragen. Und so gerne ich hier darüber schreiben würde, wie der sehr viel ältere Muhammad Ali den jüngeren, stärkeren und überlegenen George Foreman in Kinshasa besiegt hat, auch der „Rumble in the Jungle“ war kein Film.
Allerdings hat Don King auch nie versucht, den von ihm organisierten Boxkampf als Film zu verkaufen. RP Kahl versucht das bei seinem Werk sehr wohl. Es gibt natürlich noch viele weitere Unterschiede zwischen diesem Kampf um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht und RP Kahls Versuch, ein Drama auf die Leinwand zu bringen, das irgendwie keines sein will. Der Hauptunterschied ist aber wohl, dass der Boxkampf spannend war. RP Kahls Film ist so ziemlich die langweiligste Erfahrung, die man dieses Jahr im Kino machen kann.
Ich habe nur getan, was ich tun musste
Das Feuilleton liebt Kahls Nicht-Film längst. Das wundert mich gar nicht. „Die Ermittlung“ ist so ziemlich das, was man erwarten darf, wenn ein „Professor für Schauspiel und Inszenierung“, dessen bisherige Spielfilme praktisch niemand gesehen hat, für sein Projekt viel zu viel Filmförderung kassiert hat und „Kunst“ schaffen will. Neutraler Hintergrund, kein Bühnenbild außer dem Nötigsten. Praktisch keine erkennbare Inszenierung. Hier kann jeder interpretieren was er möchte. Und es bleibt einem auch nichts anderes übrig, weil Kahl dem Publikum kaum etwas zu bieten hat.
Mir ist natürlich klar, dass ein Film über den ersten Frankfurter Auschwitzprozess nicht ebenso spannend sein kann, wie einer der größten Boxkämpfe aller Zeiten. Aber Kahls Werk ist nicht nur nicht spannend. Es ist lähmend öde. Und noch schlimmer: es ist für weite Teile des Publikums komplett unzugänglich. Ich habe bereits vor Jahrzehnten über die verschiedenen Auschwitzprozesse gelesen und bin mit dem Thema vertraut. Und schon während der ersten von insgesamt 4 Stunden (in Worten: vier Stunden, jawohl vier Stunden) Laufzeit wurde mir bald langweilig. Während der zweiten musste ich an all die armen Schulklassen denken, die im Laufe der nächsten Jahrzehnte im Rahmen des Unterrichts durch dieses Werk gequält werden.
Während der dritten Stunde wünscht man sich etwas zu lesen dabeizuhaben. Gerne auch die Prozessprotokolle von damals, weil man so die langweilige dann-doch-irgendwie-dramatische Darstellung der verschiedenen Schauspieler umgehen und sich direkt mit diesem wichtigen Text beschäftigen könnte. Denn dieser Text ist enorm wichtig. Die vielen Fehler, sowohl juristischer als auch anderer Natur dieses und anderer Prozesse zeigen ja auf, dass der Holocaust und das Dritte Reich und seine Verbrechen ja eben nicht 1945 plötzlich ihr Ende gefunden haben und aufgelöst waren.
Von alldem vermittelt Kahls „Die Ermittlung“ nichts. Und man fragt sich, was Kahl mit seinem überlangen Nicht-Film überhaupt vermitteln will. Dass die Täter sich auf ihre Befehle berufen haben, ist den meisten Menschen bekannt. Und Menschen, denen dies bisher unbekannt war, werden mit Kahls Film keinen Einstieg in dieses Thema finden. Kahls Film vermittelt noch nicht einmal die von Hannah Arendt geprägte „Banalität des Bösen“. Wenn überhaupt vermittelt dieses überlange Werk eine allgemeine, unbestimmte Banalität, die dem Thema nicht gerecht wird.
Über die Leistung der langen Liste der Darsteller lässt sich kaum etwas berichten. Bekannte und weniger bekannte Gesichter der deutschsprachigen Film-, Fernseh- und Bühnenlandschaft treten auf, tragen einen Text vor, können ihre langen Jahre auf der Schauspielschule dabei eben leider nicht hinter sich lassen, und treten wieder ab. Nach vier Stunden erklingt im Abspann ungefähr die Musik, die man bei jedem anderen Holocaust-Film auch zum Abspann zu hören bekommt.
Fazit
Es ist immer gut, an den Horror des Holocaust zu erinnern. Aber um es zu erinnern, muss man sein Publikum auch erreichen können. Es ist immer gut, wenn Filmemacher künstlerisch neue Wege gehen und einmal etwas ausprobieren. Aber dieser Anspruch darf nicht zum Selbstzweck verkommen.