„Im Notfall Ruhe bewahren“
Und so kommen wir zu den kleinen Schwächen des Films, bevor wir uns den großen Defiziten zuwenden. Dass der reiche Praktikant saudumm ist, können wir verschmerzen. Ein ausgebildeter Mediziner würde auch niemals jemandem mit der Faust ins Gesicht schlagen. Mediziner haben nämlich mal gelernt, was in so einem Fall mit Handwurzel- und Mittelhandknochen passieren würde. Und das vergisst man dann sein Leben lang nicht, egal wie sehr man sich über die halbwüchsige Tochter ärgert. Aber Schwamm drüber.
Selbst die Handlungen der besten Thriller sind im besten Fall „unwahrscheinlich“. Erinnern wir uns doch bitte daran, wie Hannibal Lecter die Flucht nur gelungen ist, weil er sich das auf links gedrehte Gesicht eines seiner Opfer übergezogen hat, was dann weder den anwesenden Polizisten noch den Rettungssanitätern aufgefallen ist. Wie wahrscheinlich war das denn? Aber die Handlung von „Abgeschnitten“ wird schnell mehr als „unwahrscheinlich“. Wenn der zeitliche Ablauf des Plans der Bösewichter sogar die Bewegungen eines Sturms mit eingeplant hat oder wenn ein Wahnsinniger in einem leeren Gebäude erst einen der Guten niedersticht um dann erst zwei Stunden später wieder anzugreifen, ist das einfach „absurd“.
Aber auch diesen Level lässt die Handlung bald hinter sich, sodass man sich irgendwann fragt, was die Autoren genommen haben (und wo man das herbekommen könnte). Der entscheidende Twist in der Handlung ist dann einfach nur noch durchgeknallt. Komplett gaga. Schlicht bescheuert. Niemals, unter gar keinen Umständen, nie im Leben, kann es jemals irgendwie Sinn ergeben, dass zwei der Figuren auf die im Film beschriebene Art mit dieser dritten Figur „zusammenarbeiten“ und sie zu einem wesentlichen Teil eines Plans machen, der ebenfalls niemals, unter gar keinen Umständen, nie im Leben jemals irgendwie Sinn ergeben wird.
Neben diesem Unsinn gehen zwei weitere Merkwürdigkeiten schon fast unter. Zum einen zeigt der Film zwar eine fantastische Frauenfigur und auch die Figur des verzweifelten Vaters ist recht interessant gestaltet. Aber der Film hat keinen brauchbaren Bösewicht. Rein mathematisch würde es an Bösewichtern nicht mangeln. Immerhin bietet der Film gleich vier Stück. Über einen wird aber nur gesprochen. Und die zwei anderen Bösewichter sind so komplett an den Haaren herbeigezogen, dass man sie gar nicht als „böse“ bezeichnen mag. Und der Hauptbösewicht funktioniert überhaupt nicht.
Ein Bösewicht muss Charisma haben. Er muss etwas ausstrahlen. Der Joker, Hannibal Lecter, Darth Vader, Voldemort, Agent Smith, … sie alle hatten ein gewisses Etwas. „Je ne sais quoi“ nennen es die Franzosen. Und was es immer es auch sein mag, der Serienmörder in „Abgeschnitten“ hat nichts davon. Er ist bloß ein grinsender Idiot, der Mädchen vergewaltigt. Deshalb ist es auch ein schlimmer, schwerwiegender, geradezu unverzeihlicher Fehler, ihn bereits viel zu früh im Film zu zeigen.
Und weil wir gerade davon sprechen, was der Film alles zeigt: „Abgeschnitten“ punktet zwar mit einer der interessantesten weiblichen Heldinnen der letzten Jahre, bekommt aber jede Menge Punkte wieder abgezogen für eine der widerlichsten Vergewaltigungsszenen seit „Irreversibel“. Finger, die in Nahaufnahme abgeschnitten werden oder die vielen Detailaufnahmen von Obduktionen mögen zum Look dieses Films beitragen und sind daher nötig. Aber die Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens so detailliert zu zeigen, war schlicht und einfach nicht nötig.
Fazit
Abgeschnitten“ macht vieles richtig und einiges falsch. Hätte man die drastischen Gewaltdarstellungen an wenigstens einer oder zwei entscheidenden Stellen geschnitten, hätte das diesem überaus effektiv gemachten Film keinen Abbruch getan und er wäre uneingeschränkt zu empfehlen.