*** Abgeschnitten ***

 
abgeschnitten kritik
 
Autor: Walter Hummer
       
Der neue Film von Christian Alvart („Antikörper“) nach einer Vorlage von Sebastian Fitzek und Michael Tsokos muss den Vergleich mit thematisch ähnlichen Hollywoodfilmen nicht scheuen. Trotzdem ist der Film kein Popcorn-Kino. Popcorn aber auch Nachos oder amerikanisches Premium-Speiseeis könnten einem bei manchen Szenen nämlich leicht im Hals stecken bleiben.
 
 
„Wieso beschäftigen wir uns so wenig mit dem Tod?“
 
Dr. Paul Herzfeld (Moritz Bleibtreu) ist Chef der Pathologie beim BKA in Berlin. Eines Tages bekommt er eine Leiche auf den Tisch, der man aufwendig sowohl Hände als auch Kiefer entfernt hat. Dafür hat man im Kopf der Leiche eine Kapsel hinterlassen. Darin findet Herzfeld einen winzigen Zettel mit der Handynummer seiner Tochter. Als er anruft, erfährt er, dass das junge Mädchen entführt wurde. Wenn er sie wiedersehen will, darf er sich nicht an die Behörden wenden und muss eine Reihe von Hinweisen entschlüsseln. Leider ist der nächste Hinweis in einer Leiche versteckt, die auf Helgoland am Strand liegt.
 
Die Insel ist aber wegen eines Sturms vom Festland nicht zu erreichen. Die junge Linda (Jasna Fritzi Bauer) versteckt sich auf Helgoland vor einem Stalker. Als sie die Leiche am Strand findet, bittet der verzweifelte Pathologe sie telefonisch um Hilfe. Diese Hilfe lässt Linda nicht nur an ihre Grenzen gehen. Sie bringt die junge Frau auch in große Gefahr …
 
 
Endlich! Endlich! Endlich! Endlich mal ein spannender Film mit einer realistischen, starken Frauenfigur! Auf beiden Seiten des Atlantiks werden Frauen in Actionfilmen und Thrillern in aller Regel nur als Opfer gezeigt. Klar, alle Jahre kommen mal Filme wie „Resident Evil“, „Lara Croft“ oder neulich sogar „Wonder Woman“ ins Kino. In Interviews erzählen dann sämtliche Beteiligten, wie wichtig Filme mit starken Frauenfiguren im 21. Jahrhundert sind. Aber Alice und Frau Croft sind Figuren aus Computerspielen. Und „Wonder Woman“ ist eine Comicfigur. Spannende Filme mit starken, realistischen Frauenfiguren sind so selten wie Quentin-Tarantino-Filme die „Frei ab 6 Jahren“ sind.
 
Und gerade wenn man alle Hoffnung aufgegeben hat, sehen wir in „Abgeschnitten“ wie eine junge Frau in einer furchtbaren Situation über sich hinauswächst. Linda ist keine Killermaschine, bewaffnete Archäologin oder Superheldin. Sie ist einfach eine junge Frau mit eigenen Problemen und Einschränkungen. Aber sie ist auch eine intelligente Person mit einem guten Gespür für ihre Mitmenschen. Schnell erkennt sie, wie der verzweifelte Vater sie zu manipulieren versucht. Trotzdem realisiert sie, was in der Situation getan werden muss. Mit ihren reifen Reaktionen und ihrer realistischen Einschätzung der Lage ist sie auch der großspurigen männlichen Nebenfigur weit überlegen. Linda ist eine der am besten geschriebenen Frauenfiguren, die wir in den letzten Jahren im Film gesehen haben. Nicht bloß im deutschen Film. Nicht bloß im Unterhaltungsfilm. Linda ist eine der am besten geschriebenen Frauenfiguren, die wir in den letzten Jahren weltweit im Film gesehen haben. Punkt.
 
Die Regie unterstützt die großartige Darstellerin Jasna Fritzi Bauer dabei nach Kräften. Die zarte, junge Frau wird nicht als strahlende Heldin inszeniert, sondern als das was sie ist: eine zarte, junge Frau. Mehr als einmal wirkt die Darstellerin ganz verloren, wenn sie die viel zu große Pathologieschürze tragen und mit den ungewohnten Instrumenten hantieren muss. Wenn sie allein in der Leichenhalle steht und nicht weiterweiß, wirkt sie oft wie ein kleines Mädchen, das auf die Mami wartet. Umso stärker berührt uns die Entwicklung der Figur, wenn Linda dann über sich hinauswächst.
 
Auch in anderer Hinsicht macht die Regie vieles richtig. Die Farbpalette ist auf Grau- und Weißtöne reduziert. So bekommen wir die Kälte der winterlichen Landschaften, der Leichenhalle und des sturmgepeitschten Strands eindrücklich vermittelt. Die Kamera ist immer dicht an den Darstellern. So können wir die Angst und die Verzweiflung der Protagonisten sehen. Der Ton des Films wirkt nicht ganz so professionell wie die Kameraarbeit und die Beleuchtung. Viele Soundeffekte sind so überzogen, dass sie fast lächerlich wirken. Das ist einigen Stellen der Spannung eher abträglich als dazu beizutragen.
 
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„Im Notfall Ruhe bewahren“
 
Und so kommen wir zu den kleinen Schwächen des Films, bevor wir uns den großen Defiziten zuwenden. Dass der reiche Praktikant saudumm ist, können wir verschmerzen. Ein ausgebildeter Mediziner würde auch niemals jemandem mit der Faust ins Gesicht schlagen. Mediziner haben nämlich mal gelernt, was in so einem Fall mit Handwurzel- und Mittelhandknochen passieren würde. Und das vergisst man dann sein Leben lang nicht, egal wie sehr man sich über die halbwüchsige Tochter ärgert. Aber Schwamm drüber.
 
Selbst die Handlungen der besten Thriller sind im besten Fall „unwahrscheinlich“. Erinnern wir uns doch bitte daran, wie Hannibal Lecter die Flucht nur gelungen ist, weil er sich das auf links gedrehte Gesicht eines seiner Opfer übergezogen hat, was dann weder den anwesenden Polizisten noch den Rettungssanitätern aufgefallen ist. Wie wahrscheinlich war das denn? Aber die Handlung von „Abgeschnitten“ wird schnell mehr als „unwahrscheinlich“. Wenn der zeitliche Ablauf des Plans der Bösewichter sogar die Bewegungen eines Sturms mit eingeplant hat oder wenn ein Wahnsinniger in einem leeren Gebäude erst einen der Guten niedersticht um dann erst zwei Stunden später wieder anzugreifen, ist das einfach „absurd“.
 
Aber auch diesen Level lässt die Handlung bald hinter sich, sodass man sich irgendwann fragt, was die Autoren genommen haben (und wo man das herbekommen könnte). Der entscheidende Twist in der Handlung ist dann einfach nur noch durchgeknallt. Komplett gaga. Schlicht bescheuert. Niemals, unter gar keinen Umständen, nie im Leben, kann es jemals irgendwie Sinn ergeben, dass zwei der Figuren auf die im Film beschriebene Art mit dieser dritten Figur „zusammenarbeiten“ und sie zu einem wesentlichen Teil eines Plans machen, der ebenfalls niemals, unter gar keinen Umständen, nie im Leben jemals irgendwie Sinn ergeben wird.
 
Neben diesem Unsinn gehen zwei weitere Merkwürdigkeiten schon fast unter. Zum einen zeigt der Film zwar eine fantastische Frauenfigur und auch die Figur des verzweifelten Vaters ist recht interessant gestaltet. Aber der Film hat keinen brauchbaren Bösewicht. Rein mathematisch würde es an Bösewichtern nicht mangeln. Immerhin bietet der Film gleich vier Stück. Über einen wird aber nur gesprochen. Und die zwei anderen Bösewichter sind so komplett an den Haaren herbeigezogen, dass man sie gar nicht als „böse“ bezeichnen mag. Und der Hauptbösewicht funktioniert überhaupt nicht.
 
Ein Bösewicht muss Charisma haben. Er muss etwas ausstrahlen. Der Joker, Hannibal Lecter, Darth Vader, Voldemort, Agent Smith, … sie alle hatten ein gewisses Etwas. „Je ne sais quoi“ nennen es die Franzosen. Und was es immer es auch sein mag, der Serienmörder in „Abgeschnitten“ hat nichts davon. Er ist bloß ein grinsender Idiot, der Mädchen vergewaltigt. Deshalb ist es auch ein schlimmer, schwerwiegender, geradezu unverzeihlicher Fehler, ihn bereits viel zu früh im Film zu zeigen.
 
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Und weil wir gerade davon sprechen, was der Film alles zeigt: „Abgeschnitten“ punktet zwar mit einer der interessantesten weiblichen Heldinnen der letzten Jahre, bekommt aber jede Menge Punkte wieder abgezogen für eine der widerlichsten Vergewaltigungsszenen seit „Irreversibel“. Finger, die in Nahaufnahme abgeschnitten werden oder die vielen Detailaufnahmen von Obduktionen mögen zum Look dieses Films beitragen und sind daher nötig. Aber die Vergewaltigung eines minderjährigen Mädchens so detailliert zu zeigen, war schlicht und einfach nicht nötig.
 
Fazit
 
Abgeschnitten“ macht vieles richtig und einiges falsch. Hätte man die drastischen Gewaltdarstellungen an wenigstens einer oder zwei entscheidenden Stellen geschnitten, hätte das diesem überaus effektiv gemachten Film keinen Abbruch getan und er wäre uneingeschränkt zu empfehlen.
 
 
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