Man hätte Tonya Harding im Film als rücksichtsloses Biest darstellen können. Oder als armes Opfer der Menschen in ihrer Umgebung. Margot Robbie spielt sie in Craig Gillespies neuem Film einfach als echten Menschen mit echten Fehlern.
Die Pflicht
In einer der ersten Szenen des Films sehen wir, welche Karten das Leben der kleinen Tonya Harding ausgeteilt hat. In einer Familie der unteren Mittelschicht geboren, verlässt der Vater die Familie früh.
Die Mutter war bereits vorher ein Monster, wittert aber das Talent ihrer Tochter und lässt das Kind schon mit vier Jahren an Eiskunstlaufwettbewerben teilnehmen. Ihre gesamte Kindheit und Jugend widmet Tonya dem Sport. Dafür lässt ihre Mutter sie sogar auf Schulabschluss und Ausbildung verzichten. Als der junge Jeff Gillooly an dem Mädchen Interesse zeigt, verliebt sie sich sofort.
Obwohl auch er arm ist und recht bald gewalttätig wird, heiraten die beiden. Gewalttätigkeiten und Beleidigungen kennt Tonya bereits von ihrer Mutter zur Genüge. Die einzige Chance auf ein besseres Leben für die junge Frau ist also der Eiskunstlauf. Als es so aussieht, als würde sie hinter ihrer Teamkollegin Nancy Kerrigan nur knapp die Teilnahme an den Olympischen Spielen verpassen, denkt sich ihr Ehemann Jeff zusammen mit seinem Freund Shawn einen Plan aus …
Die Kür
Vor zwanzig Jahren kannte jedermann Tonya Hardings Geschichte. Oder glaubte sie zu kennen. Regisseur Craig Gillespie („Lars und die Frauen“) und Autor Steven Rogers schaffen es, diese Geschichte so zu erzählen, dass keiner der Beteiligten ein unschuldiges Opfer und trotzdem keiner von ihnen ein kaltherziger Verbrecher ist. Die Protagonisten sind arm und ungebildet. Sie denken nicht besonders viel über ihr Handeln nach (Ein Hauptsatz von Tonya ist immer wieder „Das war nicht meine Schuld“). Doch merken diese Figuren, wie sie immer wieder zu kurz kommen. In einer Szene sagt Tonya: „Wenn man vierte bei den olympischen Spielen wird, bekommt man keine Werbeverträge. Man bekommt die Frühschicht in einem Schnellrestaurant.“
Dieser Film zeigt uns echte Menschen, die aufgrund ihrer Erziehung niemals das emotionale Rüstzeug entwickelt haben, um mit Enttäuschungen umzugehen. Dabei werden die Charaktere aber niemals vorgeführt. Ganz anders als das was man uns im Privatfernsehen tagsüber zeigt, lernen wir hier, was diese Menschen antreibt. „I‘ Tonya“ lässt uns mit ihnen mitfühlen und -leben, statt sich über sie zu erheben. Am Ende erkennen wir, wohin ein Mangel an Perspektiven die Menschen treiben kann.
Die Geschichte wird immer wieder von den Beteiligten kommentiert. Diese semidokumentarischen Szenen verhindern, dass die drastischen Darstellungen von Gewalt und Missbrauch aber auch von Opportunismus und Rücksichtslosigkeit den Film zur Farce werden lassen. Ganz nebenbei sehen wir auch noch ein fantastisches Sportdrama. Die Szenen auf dem Eis sind brillant in Szene gesetzt. Wenn Margot Robbie den dreifachen Axel in extremer Zeitlupe springt, wirkt das realistischer als die Archivaufnahmen der echten Tonya Harding. Für Filmfans ist es immer schön zu sehen, wenn computergenerierte Bilder ausnahmsweise mal verwendet werden, um eine echte Geschichten von echten Menschen zu erzählen, statt uns Superdinosaurier oder kämpfende Alienroboter zu zeigen.
Die Eisläufer
Margot Robbie kennen wir von ihrer fantastischen Nebenrolle in „The Wolf of Wall Street“ und ihren zwei furchtbaren Hauptrollen in „Suicide Squad“ und „Focus“. Wenn sie mittlerweile gelernt hat, Projekte mit Will Smith zu meiden, könnte ihre Darstellung der Tonya Harding der Grundstein zu einer großen Karriere werden. Sie spielt Tonya als extrem entschlossene junge Frau, die sehr früh lernen musste, aus dem Wenigen was sie hat, das Meiste zu machen. Wenn Tonya Furchtbares erleidet ohne sich zu beschweren um dann wiederum an anderer Stelle im Selbstmitleid zu baden, ist es Margot Robbies Darstellung, die uns diese Figur nahe bringt. Am Ende des Films haben wir die Tragödie eines echten Menschen erfahren und können sie emotional nachvollziehen. Diese Oscar-Nominierung ist wohlverdient.
Allison Janney hat bereits im Fernsehen in „Mom“ und im Film in „Juno“ die Mutter gespielt. Hier spielt sie Tonyas Mutter als emotional gestörte Frau, die Aggressivität mit Stärke verwechselt. Janney zeigt eine eindrucksvolle Leistung, die zwar eine enorme Wucht hat, aber im Laufe des Films dann doch etwas zu einseitig bleibt. Man gönnt ihr natürlich die Oscar-Nominierung, aber Laurie Metcalf hat in „Lady Bird“ viel mehr geleistet.
Sebastian Stan („Bucky Barnes“ in den „Captain America“-Filmen) zeigt als Tonyas Ehemann Jeff eine Darstellung die nicht nur wegen des Schnauzbarts und der Klamotten sicher Mut verlangt hat. Er zeigt uns einen Menschen, der seine eigenen Widersprüche tatsächlich aufrichtig glaubt.
Fazit
Sämtliche Nebenrollen sind hervorragend besetzt. Julianne Nicholson („Law & Order: Criminal Intent“), Paul Walter Hauser („Kingdom“) und Bobby Cannavale („Ant-Man“) zeigen ihr Können in kleinen aber wichtigen Rollen.
Die elfjährige Mckenna Grace hat uns zuletzt in „Begabt – Die Gleichung eines Lebens“ beeindruckt (eine ebenso sachkundige wie überaus unterhaltsame Kritik zu diesem Film ist hier auf cinepreview.de zu finden). Hier legt sie mit ihrer berührenden Darstellung in einigen wenigen Szenen als kleine Tonya die emotionale Grundlage für die gesamte Geschichte.
Viel zu selten bekommt ein fähiger Regisseur ein gut geschriebenes Drehbuch in die Hand um daraus mit kompetenten Darstellern den bestmöglichen Film zu machen. „I, Tonya“ ist ein seltener Glücksfall. Wir sehen ein bewegendes Drama über echte Menschen mit echten Fehlern und echten Geschichten. Nicht nur für Freunde des Eiskunstlaufs absolut empfehlenswert.