Weil die Gefahr besteht, die großartigen Leistungen von Imogen Poots (28 Weeks Later“), Rufus Sewell („The Man in the High Castle“), Mark Gatiss („Sherlock“) und vor allem Olivia Williams („The Sixth Sense“) zu übersehen, möchte ich jeden Leser ermutigen, sich „The Father“ zweimal anzusehen. Einmal um den Film als solchen auf sich wirken zu lassen. Und ein zweites Mal unter anderem, um großartige Profis bei der Arbeit zu beobachten. Sie leisten Erstaunliches in undankbaren Rollen. Ihre Figuren müssen den Vater und auch uns irritieren. Trotzdem spielt keiner von ihnen je irritierend. Vater und Publikum müssen jeden von Ihnen als Eindringling wahrnehmen. Trotzdem spielt jeder von ihnen absolut natürlich, alle liefern homogene Leistungen, die auf unspektakuläre Weise beindrucken.
Auf spektakuläre Weise beeindruckend ist die Leistung des über Achtzigjährigen Anthony Hopkins. Leider ist Hopkins für die meisten Menschen vor allem Dr. Hannibal Lecter, der geniale Kannibale. Und leider hat er in den Jahrzehnten seit „Das Schweigen der Lämmer“ immer wieder Genies („Hitchcock“, „Mein Mann Picasso“) oder andere überlebensgroße Figuren spielen müssen („Nixon“, „Die zwei Päpste“, „Thor“). Dabei ist Hopkins immer dann am besten, wenn er ganz normale Menschen spielen kann. Nur Hopkins konnte uns mit seinem stillen, zurückhaltenden Spiel die Figur des Butlers in „Was vom Tage übrig bleibt“ nahe bringen. Nur er konnte uns das Besondere an der Geschichte eines alten Mannes mit einem fast ebenso alten Motorrad in „The World’s Fastest Indian“ vermitteln.
In „The Father“ ist Hopkins unter anderem deshalb so großartig, weil er nicht das große Drama spielt, weil er auf die große Geste verzichtet. Als Vater reagiert er genervt, wie jedermann genervt reagiert, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Wenn die Tochter ihm von ihren Umzugsplänen erzählt, reagiert er zunächst herablassend. Sekunden später ist er egozentrisch und dann bald weinerlich, um dann bald wieder herrisch, eloquent und sogar charmant aufzutreten. Hopkins spielt jede dieser Situationen, jeden dieser Zustände mit einer mühelos wirkenden Präzision. Die Übergänge wirken immer natürlich, nichts an seiner Darstellung wirkt „gespielt“ oder „dargestellt“. Hopkins „ist“ einfach herablassend, eloquent, herrisch, charmant oder was immer der Vater gerade ist.
Wirklich herausragende Darsteller sind hinter ihren Rolle nicht mehr zu erkennen. Hopkins geht in „The Father“ vielleicht noch weiter. Er geht tatsächlich in der Rolle auf. Hopkins verliert sich in dem Vater. Hopkins vermischt sich mit dem Vater. Nicht nur trägt der Vater im Film ebenfalls den Vornamen „Anthony“. An einer Stelle nennt der Vater als sein Geburtsdatum den 31.12.1937. Das ist Hopkins‘ tatsächliches Geburtsdatum.
Zu Anfang sehen wir zwar vielleicht immer noch irgendwie einen Schauspieler, machen uns aber schnell sowohl Sorgen um die Figur des Vaters als auch um Anthony Hopkins, die ineinander übergehen. Gegen Ende fühlen wir nur noch die tiefempfundene Angst dieses alten Mannes auf der Leinwand. Der Trost einer Nebenfigur kann uns nicht mehr erreichen. Alles ist furchtbar, alles macht uns Angst. Und die Angst ist so groß, sie macht uns klein. Zusammen mit dem Vater werden wir zu kleinen Kindern.
Wenn wir uns am Ende des Films hilflos fühlen, dann weil dieser Film uns gezeigt hat, wie Demenz sich auf den Betroffenen auswirken muss. Wir haben nicht einfach nur eine Geschichte erzählt bekommen, wir haben eine Erfahrung gemacht. Das verdanken wir unter anderem der großartigen Zusammenarbeit sämtlicher Künstler und Künstlerinnen an diesem Film. Sie alle haben dafür gesorgt, dass Anthony Hopkins die vermutlich großartigste Leistung seiner Karriere zeigen konnte. Ganz sicher zeigt er die mit Abstand beste darstellerische Leistung des Jahres.