In „Nobody“ zieht Gewalt immer auch Konsequenzen nach sich. Hier ist nicht jeder Einbrecher gleich Abschaum, den es umgehend totzuschießen gilt. Und hier verschätzt sich ein Held auch schon mal und muss dann die Folgen ertragen. In einer meiner Lieblingsszenen des Films meint der Held, der seine Karriere als harter Knochen vor vielen Jahren an den Nagel gehängt hat, nach langer Zeit wieder mal eine Überzahl an Gegnern aufmischen zu können. Nachdem Variationen dieser Szene in so vielen Filmen immer nach dem gleichen Muster abliefen, läuft sie hier erfrischend anders ab.
Natürlich ist Kolstads Drehbuch nicht perfekt. Ein Polizeibeamter ist zu vorlaut. Die Art wie die russische Mafia ihre Altersvorsorge verwaltet ergibt keinen rechten Sinn. Und die eine oder andere Nebenfigur wurde nicht zu Ende ausgearbeitet. Aber diese Mängel sind vernachlässigbar, wenn man im Laufe des Films erkennt, wie realistisch viele Wendungen der Geschichte ausfallen und wie viele Klischees hier bewusst vermieden wurden. „Nobody“ zeigt die Lächerlichkeit der ewiggleichen Plots nach Mustern wie „Mein-Hund-wurde-ermordet“, „Meine-Tochter-wurde-entführt“, „Jetzt-wurde-auch-noch-meine-Frau-entführt“ oder „Diesmal-wurde-zwar-niemand-entführt-aber-ich-richte-trotzdem-Chaos-an“.
Und während man von Odenkirks Darstellung gefesselt, von den Wendungen der Handlung überrascht und der kompetenten Regie unterhalten wird, stellt man fest, welche tiefen, profunden philosophischen Fragen dieser Film behandelt. Was ist ein Mensch, der einen wesentlichen Teil seiner eigenen Vergangenheit verborgen hat? Wenn der Mensch für das verantwortlich ist, was er ist und er damit nicht nur für seine Individualität, sondern für alle Menschen verantwortlich ist, dann ist „Nobody“ plötzlich nicht mehr bloß „John Wick“ für Erwachsene. Dieser Film ist „John Wick“ für Erwachsene die Jean-Paul Sartre gelesen haben.
You’ll never walk alone
Aber wie die Existenz dem Wesen vorausgeht, braucht es Darsteller, die den Existentialismus des Drehbuchs glaubhaft und nachvollziehbar vermitteln. Wenn sie dabei, wie Odenkirk, ebenso glaubhaft und nachvollziehbar viele Nebenfiguren der vorgegebenen Fatalität zuführen, diese also abknallen, erstechen, erschlagen und auf andere Weise töten, dann bereichert das den Film ungemein.
Der große Christopher Lloyd hat in so unterschiedlichen Filmen wie „Einer flog übers Kuckucksnest“ und „Die Addams Family“ brilliert. Für die meisten von uns ist er Doc Brown aus „Zurück in die Zukunft“. In „Nobody“ stiehlt er den anderen Darstellern die Show als der wehrhafteste Rentner der Filmgeschichte.
Connie Nielsen war aufregend in „Im Auftrag des Teufels“, hat ihr Talent in „Gladiator“ verschwendet und hatte zuletzt eine Art Comeback als Hyppolita in „Wonder Woman“. In ihren wenigen Szenen vermeidet sie die bekannten Klischees der ahnungslosen Ehefrau.
Die Rolle des russischen Mafiosi ist natürlich ein Klischee. Der Darsteller Alexei Walerjewitsch Serebrjakow schafft es, in einigen Szenen trotzdem die Zweifel seiner Figur zu vermitteln.
Fazit
Für alle, denen in De Siccas „Die Eingeschlossenen“ zu wenig in die Luft fliegt und in Bergmanns „Das Siebte Siegel“ zu wenig mit vollautomatischen Waffen geschossen wird, kommt nun ein existentialistisches Action-Drama ins Kino. Oder einfacher ausgedrückt: „Nobody“ ist der coolste Film des Jahres!