Es fährt ein Zug nach Nirgendwo
Eine weit verbreitete Krankheit unter deutschen Filmemachern ist das sogenannte „Lindenstraßen-Syndrom“. Benannt wurde dieses Krankheitsbild nach einer viel zu langjährigen Fernsehserie, in der die die Protagonisten nie einfach bloß Schicksalsschläge erleiden. In der irrigen Annahme, das würde zur Dramatik beitragen, lassen die Drehbuchautoren ihre Figuren immer eine möglichst große Anzahl von schrecklichen Ereignissen gleichzeitig oder kurz hintereinander erleben. Wenn im realen Leben jemand seinen Arbeitsplatz verliert, hat er zunächst einmal eine gewissen Kündigungszeit, während der er sich eine neue Arbeitsstelle suchen kann. Gelingt ihm das nicht sofort, meldet er sich erstmal arbeitslos.
Wer in der Lindenstraße lebt, wird sofort fristlos gekündigt, kommt deshalb zu früh von der Arbeit nach Hause, überrascht seine Frau mit einer lesbischen Liebhaberin im Bett, die daraufhin die untreue Ehefrau ermordet, der arbeitslosen Hauptfigur die Mordwaffe unterschiebt, woraufhin der Protagonist bereits in der nächsten Folge zu lebenslanger Haft verurteilt wird, sodass er sich im Gefängnis prostituieren muss, drogensüchtig wird und dann tatsächlich einen Mord begeht und das alles bloß wegen des Verlusts der Arbeitsstelle.
Nach diesem Muster werden 99% aller deutschen Dramen geschrieben. „Dramen“ müssen „dramatisch“ sein und was ist dramatischer als die Protagonisten von den Göttern verflucht von einer Katastrophe in die nächste stürzen zu lassen, wie unwahrscheinlich das auch sein mag. Fatih Akin hat in seinem Werk mehr als einmal deutliche Symptome dieses Syndroms gezeigt. In „Gegen die Wand“ unternimmt eine der beiden Hauptfiguren zwei Selbstmordversuche, wird zunächst von der Familie verstoßen und dann vergewaltigt, während die andere Hauptfigur bloß einen Selbstmordversuch dafür aber auch einen Mord begeht. Und denken wir bloß mal daran, was Diana Kruger in „Wie aus dem Nichts“ alles erleben und auch selbst anstellen musste.
Um ein langes kurz zu machen: Akin hat gut daran getan, sich in seinem neuen Film weitgehend an die Vorlage zu halten. Natürlich ist eine Infektion mit dem „Lindenstraßen-Syndrom“ eine hartnäckige Angelegenheit. Und weil der Erreger vermutlich Antibiotikaresistent ist, zeigen sich auch in „Der goldene Handschuh“ immer noch leichte Symptome. Als Honka beim Beseitigen einer Leiche einmal von einem Fahrrad erschreckt wird, hören wir dabei den Soundeffekt eines vorbeifliegenden Kampfjets. An anderer Stelle muss der Mörder einen Verkehrsunfall erleiden, der in Wahrheit zu diesem Zeitpunkt nicht passiert ist und nichts zur Handlung beiträgt. Aber im Großen und Ganzen vermittelt uns der Film vor allem die stumpfe Tristesse einer Existenz ohne Aussichten und ohne Hoffnungen am unteren Rand der Gesellschaft. Ohne das erforderliche emotionale Rüstzeug, weiß das hilflose Individuum keinen Ausweg und versucht mit brutaler Gewalt auszubrechen.
Und Akin schont sein Publikum nicht. Sowohl das Triste als auch das Brutale zeigt uns der Film in allen Details. Die enge, schmuddelige Mansarde, die versiffte Etagentoilette und die Kneipe, in der nie die Vorhänge aufgezogen werden, bilden einen Lebensraum, der nicht lebenswert ist. Als Honka kurzzeitig eine Anstellung als Nachtwächter in einem Bürogebäude erhält, wirken das enge Kabuff, in dem er seinen Dienst versieht und der schmucklose Umkleideraum, in der er mit der Putzfrau und ihrem Mann einen trostlosen Geburtstag feiert, vergleichsweise heiter. Sie lassen Honka und den Zuseher trügerische Hoffnung schöpfen.
Hier leistet die Ausstattung hervorragende Arbeit. Selten wurden die Siebzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts im Kino des einundzwanzigsten Jahrhunderts realistischer dargestellt. Vergesst „Mamma Mia 2“ und „Nice Guys“. Die Siebziger Jahre waren niemals wirklich bunt. Das war die Zeit während der sämtlichen Farben immer einen leichten Braunstich hatten. Selbst kräftige Farben wie Gelb oder Rot sahen immer etwas braun aus. Und vor allem in der Unterschicht war die Nachkriegszeit 1975 noch lange nicht vorbei. Arme Leute hatten damals keine bunten Möbel und trugen keine bunte Kleidung.
Man kann nur bewundern was für großartige Arbeit Ausstattung, Kostüm- und Bühnenbildner hier geleistet haben. Aber auch die Maskenbildner leisten Erstaunliches. Beeindruckend ist natürlich zunächst das entstellte, schielende Antlitz der Hauptfigur. Aber auch all die verbrauchten, vom Leben und vom Missbrauch gezeichneten Gesichter der Frauen und Männer des Milieus vermitteln eine Atmosphäre, wie man sie im Film – und vor allem im deutschen Film – nur selten gezeigt bekommt.
Du sollst nicht weinen
Bei allem Lob muss aber auch eine Warnung ausgesprochen werden: Wie bereits erwähnt, schont Akin sein Publikum nicht. Die Gewaltdarstellungen im Film sind drastisch. Die vielen Szenen, in denen Gewalt gegen Frauen gezeigt wird, sind nichts für sanfte Gemüter. Verstörend wirkt vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die weiblichen Figuren in diesem Film die ihnen angetane Gewalt ertragen. Das vermittelt einen furchtbaren Einblick in das Leben der Frauen dieser Gesellschaftsschicht.
Ich halte nichts von restriktiven Altersfreigaben für Spielfilme. Von mir aus sollen Zwölfjährige Pornos sehen dürfen. Dann sind sie wenigstens ein bisschen vorbereitet, wenn es bei ihnen mal so weit kommt. Und selbstverständlich sollen Elfjährige Kriegsfilme sehen dürfen. Vielleicht vermittelt Ihnen das etwas Respekt vor dem Leben. Aber die Altersfreigabe von „FSK 18“ für „Der Goldene Handschuh“ erscheint mir ein bisschen zu gering. Wenn ich denke an welchen Stellen während der Pressevorführung vereinzeltes Gelächter zu hören war, wäre ich für „FSK 30“. Gerne auch „FSK 35“.
Ein Schiff wird kommen
Und so kommen wir zu den Darstellern und vor allem Darstellerinnen. Die Österreicherin Margarete Tiesel hat bereits in Ulrich Seidls „Paradies: Liebe“ gezeigt, wie weit sie für eine Rolle zu gehen bereit ist. In Ihrer Darstellung der Gerda zeigt sie uns die Trümmer eines gescheiterten Lebens.
Martina Eitner-Acheampong kennen vielleicht einige aus „Stromberg“ und werden trotzdem Mühe haben, sie in ihrer Rolle als Frida wiederzuerkennen. Ihre Szenen sind von einer grausamen Brutalität und man muss diese Schauspielerin für ihren Mut bewundern.
Auch Barbara Krabbe, Jessica Kosmalla und Katja Studt zeigen beeindruckende Leistungen, die auf schmerzhafte Weise tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit vermitteln.
Nur selten sieht man einen Darsteller so komplett in einer Rolle verschwinden, dass der Schauspieler selbst gar nicht mehr wahrnehmbar ist. Dem kürzlich verstorbenen Albert Finney ist dieses Kunststück in „Mord im Orient-Express“ gelungen. Und Heath Ledger verschwand in „The Dark Knight“ komplett hinter der Maske des Jokers. Die Maske hat sicher auch Jonas Dassler („Werk ohne Autor“) geholfen. Seine Darstellung des Fritz Honka ist vielleicht nicht sehr subtil, effektiv ist sie auf jeden Fall. Im Film ist nur noch ein verzweifelter, gestörter Mensch ohne Aussichten zu sehen. Von Jonas Dassler ist nichts mehr zu erkennen.
Fazit
„Der Goldene Handschuh“ ist ein verstörender, schwieriger und furchtbar brutaler Film. Trotzdem ist dieser Film sicher Akins bisher subtilstes und reifstes Werk.