Die Geschichte von Elton Johns frühen Jahren wurde von vielen Kritikern bereits vor dem Kinostart mit „Bohemian Rhapsody“, dem Film über Freddie Mercurys Leben, verglichen. Nun steht fest, wie der Vergleich ausfällt …
I remember, when Rock was young …
Der kleine Reginald Kenneth Dwight wächst in der unteren Mittelschicht im Nachkriegslondon auf. Der distanzierte Vater verlässt die Familie früh. Die Mutter ist vor allem mit sich selbst beschäftigt. Einzig die Großmutter versteht und fördert den begabten Buben. Er erhält seine Ausbildung an der Royal Academy of Music. Als Teenager gründet er eine Band und begleitet amerikanische Soulmusiker auf Touren durch Großbritannien. Nachdem er zusammen mit dem Texter Bernie Taupin die ersten eigenen Songs geschrieben hat, stellt sich der ganz große Erfolg für Elton John ein …
Man kann verstehen, warum viele Kritiker „Rocketman“ mit „Bohemian Rhapsody“ vergleichen. Regisseur Dexter Fletcher hatte den Film über Freddie Mercury fertiggestellt, nachdem sich das Studio und der ursprüngliche Regisseur Bryan Singer überworfen hatten. Aber mit „Rocketman“ hat Fletcher nun eine ganz andere Art von Film geschaffen. „Bohemian Rhapsody“ war ein recht biederes Biopic, das nur von seiner großartigen Schlusssequenz gerettet wurde. „Rocketman“ ist ein herrlich schräges Drama-Comedy-Fantasy-Musical.
Bereits vor geraumer Zeit war zu lesen, dass Taron Egerton in seiner Rolle als Elton John selbst singen würde. Wozu sollte das denn gut sein? Wer den fertigen Film sieht, erkennt sofort welche Freiheiten diese geniale Idee den Filmemachern eröffnet hat. Dem guten Rami Malek wurde ein Oscar für seine Leistung in einer besseren Playback-Show verliehen (im Falle von Rami Malek könnte man sogar von einer „Mini-Playback-Show“ sprechen, falls das Wortspiel erlaubt ist). Taron Egerton spielt, tanzt, hüpft und vor allem singt sich durch das Leben von Elton John Er reißt uns mit, statt uns etwas vorzuspielen.
Alleine, wie er „The Bitch Is Back“ mit seinem jüngeren Ich als Duett darbietet, ist den Preis der Kinokarte wert. Wenn Sohn, Mutter, Vater und Großmutter „I Want Love“ singen, wird - ohne viel zu erklären - vermittelt, wie unglücklich diese Menschen mit ihren Rollen innerhalb des bürgerlichen Familienverbands sind. „Saturday Night’s Alright For Fighting“ zelebriert die einfache Herkunft von Sir Elton auf kraftvolle, bunte, durchgeknallte Weise. Diese und viele andere Songs spicken die Handlung nicht nur mit großartigen Musikdarbietungen, sie sind Teil der Handlung. Der Film erzählt seine Geschichte vor allem mit diesen immer wieder hervorragend inszenierten Musiknummern.
Sorry seems to be the hardest word …
Auch wenn nicht gesungen wird erkennen wir, Drehbuchautor Lee Hall („Billy Eliott“) und Regisseur Fletcher wissen was sie tun. Die Szene in der Elton John und Bernie Taupin einander kennenlernen ist auf eine unaufgeregte Art großartig gestaltet. Der Zuseher spürt, wie hier zwei verwandte Seelen aufeinander treffen und einander erkennen. Wir fühlen die Freude dieser zwei jungen Menschen, den jeweils anderen getroffen zu haben. Wer sich bei dieser Szene nicht daran erinnert, wie er selbst als junger Mensch seinen besten Freund zum ersten Mal getroffen hat, kann einem leidtun.
Auch die Höhen und Tiefen während Elton Johns früher Jahre werden dem Publikum nachvollziehbar vermittelt. Drogen und Alkohol waren in der Musikbranche der frühen Siebziger überall verfügbar und der Film zelebriert die entsprechenden Szenen wie eine lange, sehr anstrengende Party mit wechselnden Schauplätzen. Mitten in all diesem Trubel trifft der verwirrte Sänger auf seinen späteren Manager John Reid. Wir verstehen, warum Elton John diesen verführerischen Teufel schnell in seinem Bett und in seinem Leben haben wollte.
Dabei wird der Film nie zu dialoglastig. Wo andere Filme uns „erklären“, was der Hauptfigur widerfährt, wird uns hier alles gezeigt. Die frühe Kahlköpfigkeit des Sängers wird nur kurz angeschnitten. Trotzdem erkennen wir, welchen Einfluss sein biederes Äußeres auf die Wahl seiner Outfits in diesen Jahren hatte. Elton Johns Homosexualität wird nie als problematisch dargestellt. Probleme entstehen nur durch die Verständnislosigkeit und die Ignoranz seiner Mitmenschen. Ein Outing am Telefon vermittelt diese Abgründe drastisch.
Natürlich ist der Film voller inhaltlicher Fehler und Anachronismen. „I’m still standing“ wird hier lange nach Elton Johns Ehe mit Renate Blauel veröffentlicht. Und seine Drogenprobleme lagen zu dem Zeitpunkt in Wahrheit auch längst nicht hinter ihm. Na und? Dieser Film ist keine Dokumentation, nicht einmal eine wirkliche Filmbiographie. „Rocketman“ ist eine Filmfantasie, die von Elton Johns Leben inspiriert wurde. Und als solche funktioniert sie wunderbar.
Bennie and the Jets
Taron Egertons („Kingsman: The Secret Servce““) hat ja bereits bei „Eddie the Eagle“ mit Regisseur Dexter Fletcher zusammengearbeitet und eine Rolle nach einem realen Vorbild gestaltet. Auch seine Darstellung in diesem Film ist keine Imitation des Vorbilds, sondern eine eigenständige Interpretation. Das unterscheidet seinen Elton John von Rami Maleks Freddie Mercury. Jeder Zuseher darf selbst entscheiden, was ihm lieber ist. Die größere künstlerische Leistung zeigt eindeutig Egerton.
Jamie Bell konnte seit seinem ersten Film „Billy Elliott“ nur selten zeigen, was in ihm steckt. Seine bekannten Filme waren alle furchtbar („Jumper“, „Fantastic Four“), seine gelungen Filme hat niemand gesehen („Snowpiercer“, „Filth“). Und in „Tim und Struppi“ hat man den armen Man gar nicht wirklich gesehen. Wie Bernie Taupin Elton Johns Musik mit seinen sensiblen Texten bereichert hat, so bereichert Bell mit seiner Darstellung eines aufrechten und wahren Freundes diesen Film.
Die Besetzung von Bryce Dallas Howard als Elton Johns Mutter überrascht. Wir kennen die Amerikanerin doch vor allem als attraktive Hauptdarstellerin in den „JurassicWorld“-Filmen. Noch überraschender ist aber, wie sehr sie in der Rolle der in die Breite gegangenen englischen Matrone aufgeht (wieder ein kleines Wortspiel).
Die verdiente britische Charakterdarstellerin Gemma Jones („Bridget Jones“) bringt als Großmutter echte Herzenswärme in den Film ein. Richard Madden („GOT“) ist großartig als widerlich attraktiver Manager John Reid.
Fazit
„Rocketman“ mit „Bohemian Rhapsody“ zu vergleichen, zeigt vor allem, wie bieder der Film über Freddie Mercury gemacht war. Der neue Film über Elton Johns Leben traut sich einfach viel mehr. Und weil Sir Elton uns jahrzehntelang gezeigt hat, wie langweilig „normal“ doch ist, fällt dieser herrlich schräge Film wunderbar stimmig aus. Manchmal muss man das Leben durch eine schrille, bunte Brille betrachten …