What will become of us?
Die zweite schräge Entscheidung ist es, die letzte halbe Stunde des Films einer Art bizarrem Treppenwitz zu widmen. Ich möchte nicht mehr spoilern als nötig. Hätte die letzte halbe Stunde des Films den größeren Teil des Filmes und damit die Haupthandlung gebildet, wäre das zwar ein anderer Film gewesen, aber einer der vielleicht funktioniert hätte.
Hätte man uns nicht von Anfang an der ganzen Spannung für die folgende Stunde Laufzeit beraubt, hätte die letzte halbe Stunde des Films deutlich gekürzt einen beunruhigenden Epilog zu einem Film bilden können, der vielleicht auch funktioniert hätte. Aber auf eine spannungsfreie Handlung eine durchaus spannende aber ganz andere Handlung folgen zu lassen, die man entweder deutlich länger oder deutlich kürzer erzählen hätte müssen, ist einfach nur schräg.
Eine dritte schräge Entscheidung folgt ganz am Schluss des Films. In der ersten Hälfte des Films wurde umständlich und aufwendig eine Polaroidkamera in die Handlung eingeführt. Und getreu der Maxime Anton Tschechows, „Wenn im ersten Akt ein Gewehr zu sehen ist, wird es im letzten Akt abgefeuert“, wird mit dieser Kamera am Ende ein Foto aufgenommen, das dann eine Pointe bildet, die wiederum allem widerspricht, was wir in den vorangegangenen anderthalb Stunden gezeigt bekommen haben.
So kann dieser Film leider nicht funktionieren, weil Film ganz allgemein so nicht funktioniert. Vor diesem Hintergrund ist auch die Darstellung der Mutter durch Halle Berry spannungsfrei und damit nicht besonders interessant. Aber spannungsfreie, nicht besonders interessante Darstellungen kennt man von Halle Berry. In den letzten Jahren sahen wir diese Schauspielerin vor allem in Nebenrollen („John Wick: Kapitel 3“, „Moonfall“, „Kingsman: The Golden Circle“). Filme mit ihr in der Hauptrolle laufen kaum noch im Kino. Doch das war mal anders.
Vor zwanzig Jahren hat Frau Berry die Hauptrolle in „Gothika“ gespielt. Dieser Film war eigentlich nur an den wenigen Stellen spannend, an denen man sich fragen musste, ob die Hauptfigur wahnsinnig war oder tatsächlich in Gefahr. Zwei Jahrzehnte später hätte also sogar die Hauptdarstellerin aus Erfahrung wissen müssen, was an „Never Let Go“ nicht funktionieren kann.
Wenn dieser misslungene Film etwas zu bieten hat, das ihn doch noch halbwegs interessant macht, dann sind es die Leistungen der beiden Jungdarsteller Anthony B. Jenkins und Percy Daggs IV. Der junge Herr Jenkins vermittelt eine beflissene Ernsthaftigkeit, die im Verlauf des Films kippt. Die Darstellung dessen, was danach kommt, gelingt dem jungen Schauspieler vielleicht nicht mehr ganz so überzeugend. Hätte „Never Let Go“ ein emotionales Zentrum, dann wäre das die Darstellung von Percy Daggs IV.
Er stellt den zweiten der Brüder als liebevollen Burschen aber auch als kritischen, aufgeweckten Geist dar. Als echtes Kind eben. Er sorgt dafür, dass das Publikum sich doch noch um die Protagonisten sorgt. Er vermittelt uns die Gefühle seiner Figur, damit wir mitfühlen können. Und das alles macht der junge Percy Daggs IV wirklich gut. Aber auch er kann diesen schrägen Film nicht retten.