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Kritik: Never Let Go

sub kritik
 
Autor: Walter Hummer
Jeder echte Filmfan liebt es, wenn Filmemacher mutige, ungewöhnliche Entscheidungen treffen …
 
We’re the world now (SPOILER!)
 
Auszug aus der Einladung zur Pressevorführung: „In einer post-apokalyptischen Welt lebt Momma (Halle Berry) mit ihren 10-jährigen Zwillingssöhnen Samuel und Nolan in einer einsamen Hütte im Wald. Die Hütte und der enge Zusammenhalt der kleinen Familie sind der einzige Schutz vor den Bedrohungen des Waldes und dem Bösen in der Welt. Momma bläut ihren Kindern ein, dass sie das Haus nur verlassen dürfen, wenn sie mit langen Stricken damit verbunden bleiben: Wird diese Verbindung gekappt, lauert der Tod! Doch als einen der Jungen Zweifel an Mommas Warnungen beschleichen, wird das Band, das die Drei verbindet, jäh durchtrennt.“
 
Ich will nicht immer auf den Verleihfirmen herumhacken. Wirklich nicht. Aber dieser Text ist kompletter Unsinn. Wer immer diesen Text verfasst hat, kann keine 10 Minuten dieses Films gesehen haben. Oder dieser Person ist komplett gleichgültig, wie irreführend sie für diesen Film wirbt. In jedem Fall ist der Text kompletter Unsinn.
 
Die beiden Autoren KC Coughlin und Ryan Grassby haben bisher zusammen Drehbücher für eine Fernsehserie und zwei Spielfilme verfasst, von denen ich noch nie gehört habe (falls jemand „Mean Dreams“, weltweites Einspielergebnis $ 36.146,- oder „The King Tide“, weltweites Einspielergebnis $ 8.124,-, gesehen haben sollte, bitte ich um Mitteilung in der Kommentarfunktion). Vielleicht sind die beiden Autoren, die bisher den Gegenwert eines passablen Mittelklassewagens erwirtschaftet haben, keine erfahrenen Profis.
 
 
Aber Regisseur Alexandre Aja hat bisher mindestens ein halbes Dutzend Filme inszeniert. Für einige hat er auch die Drehbücher verfasst. Und auch wenn keiner dieser Filme ein Meisterwerk war, so hatte Ajas Remake von „The Hills have Eyes“ durchaus interessante Ansätze. Und „Oxygen“ mit Mélanie Laurent ist ein effizienter und spannender Science-Fiction-Thriller. Leider ist an „Never Let Go“ rein gar nichts effizient. Und spannend schon gar nicht. Das verhindert eine der schrägsten Fehlentscheidungen der jüngeren Filmgeschichte.
 
Der obenzitierte Pressetext erweckt den Eindruck, Ursache und Natur der Bedrohung wären zunächst ungewiss. Und erst während des Films würden sich die entstehenden Zweifel des Sohnes auf das Publikum übertragen. Das ist aber keineswegs so. Überhaupt nicht. Kein bisschen. Sowohl das Drehbuch von Coughlin und Grassby als auch die Regie von Aja lassen von Anfang an keinerlei Zweifel zu: „Momma“ leidet an Wahnvorstellungen. Außerhalb der Hütte gibt es gar keine Bedrohung. Und „Momma“ versteckt sich und ihre Söhne gleichermaßen vor ihrer Vergangenheit sowie vor dem Jugendamt. Punkt.
 
Und damit ist praktisch erstmal sämtliche Spannung aus dem Film raus. Denn die Ungewissheit, die aus der Frage, ob die Bedrohung real ist oder nicht, in Filmen wie „Take Shelter“, „10 Cloverfield Lane“ oder selbst dem furchtbaren „The Village“ entstehen konnte, wurde hier von Anfang an durch Gewissheit ersetzt: „Momma“ ist gaga. Alles was sie sieht, kann nur sie allein sehen weil nichts davon außerhalb ihres Kopfes existiert. Damit ist die gesamte erste Stunde dieses Films komplett frei von Spannung.
 
Zu sehen gibt es trotzdem einiges. Bereits die erste Szene ist wirklich schaurig. Und „Mommas“ Wahnvorstellungen werden von Alexandre Aja ebenso plastisch wie drastisch in Szene gesetzt. Aber all die gruseligen Effekte, die sehr gute Kameraarbeit, die stimmungsvollen Drehorte, ja selbst die Arbeit der Darsteller*innen, … all dieser Aufwand ist komplett verschwendet, weil die Macher dieses Films uns praktisch eine Pointe bereits ganz am Anfang präsentieren, noch bevor sie die dazugehörende Geschichte richtig erzählen können. Und das ist zwar die schrägste, aber nicht die einzige schräge Entscheidung der Filmemacher.
 
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What will become of us?
 
Die zweite schräge Entscheidung ist es, die letzte halbe Stunde des Films einer Art bizarrem Treppenwitz zu widmen. Ich möchte nicht mehr spoilern als nötig. Hätte die letzte halbe Stunde des Films den größeren Teil des Filmes und damit die Haupthandlung gebildet, wäre das zwar ein anderer Film gewesen, aber einer der vielleicht funktioniert hätte.
 
Hätte man uns nicht von Anfang an der ganzen Spannung für die folgende Stunde Laufzeit beraubt, hätte die letzte halbe Stunde des Films deutlich gekürzt einen beunruhigenden Epilog zu einem Film bilden können, der vielleicht auch funktioniert hätte. Aber auf eine spannungsfreie Handlung eine durchaus spannende aber ganz andere Handlung folgen zu lassen, die man entweder deutlich länger oder deutlich kürzer erzählen hätte müssen, ist einfach nur schräg.
 
Eine dritte schräge Entscheidung folgt ganz am Schluss des Films. In der ersten Hälfte des Films wurde umständlich und aufwendig eine Polaroidkamera in die Handlung eingeführt. Und getreu der Maxime Anton Tschechows, „Wenn im ersten Akt ein Gewehr zu sehen ist, wird es im letzten Akt abgefeuert“, wird mit dieser Kamera am Ende ein Foto aufgenommen, das dann eine Pointe bildet, die wiederum allem widerspricht, was wir in den vorangegangenen anderthalb Stunden gezeigt bekommen haben.
 
So kann dieser Film leider nicht funktionieren, weil Film ganz allgemein so nicht funktioniert. Vor diesem Hintergrund ist auch die Darstellung der Mutter durch Halle Berry spannungsfrei und damit nicht besonders interessant. Aber spannungsfreie, nicht besonders interessante Darstellungen kennt man von Halle Berry. In den letzten Jahren sahen wir diese Schauspielerin vor allem in Nebenrollen („John Wick: Kapitel 3“, „Moonfall“, „Kingsman: The Golden Circle“). Filme mit ihr in der Hauptrolle laufen kaum noch im Kino. Doch das war mal anders.
 
Vor zwanzig Jahren hat Frau Berry die Hauptrolle in „Gothika“ gespielt. Dieser Film war eigentlich nur an den wenigen Stellen spannend, an denen man sich fragen musste, ob die Hauptfigur wahnsinnig war oder tatsächlich in Gefahr. Zwei Jahrzehnte später hätte also sogar die Hauptdarstellerin aus Erfahrung wissen müssen, was an „Never Let Go“ nicht funktionieren kann.
 
Wenn dieser misslungene Film etwas zu bieten hat, das ihn doch noch halbwegs interessant macht, dann sind es die Leistungen der beiden Jungdarsteller Anthony B. Jenkins und Percy Daggs IV. Der junge Herr Jenkins vermittelt eine beflissene Ernsthaftigkeit, die im Verlauf des Films kippt. Die Darstellung dessen, was danach kommt, gelingt dem jungen Schauspieler vielleicht nicht mehr ganz so überzeugend. Hätte „Never Let Go“ ein emotionales Zentrum, dann wäre das die Darstellung von Percy Daggs IV.
 
Er stellt den zweiten der Brüder als liebevollen Burschen aber auch als kritischen, aufgeweckten Geist dar. Als echtes Kind eben. Er sorgt dafür, dass das Publikum sich doch noch um die Protagonisten sorgt. Er vermittelt uns die Gefühle seiner Figur, damit wir mitfühlen können. Und das alles macht der junge Percy Daggs IV wirklich gut. Aber auch er kann diesen schrägen Film nicht retten.
 
Fazit
 
Wir alle lieben mutige und ungewöhnliche Entscheidungen im Film. Aber es gibt Grenzen zwischen ungewöhnlich und schräg, zwischen mutig und dumm. Sind diese Grenzen überschritten, kann ein Film nicht mehr funktionieren. „Never Let Go“ funktioniert einfach nicht.
 
 
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