Und vor diesem Hintergrund wirkt auch die Entwicklung der Hauptfigur viel stärker und bewegender als in so vielen anderen Filmdramen. Wir erleben wie sich Eunices ängstliche Erleichterung nach ihrer Freilassung in Entschlossenheit weiterentwickelt. Wir können sogar ihren Ärger verstehen, über das, was ihr Ehemann und seine Freunde vor ihren Augen und doch hinter ihrem Rücken getrieben haben. Wir können nachvollziehen, wie sie nach dem Zusammenbruch ihrer Welt nicht auch noch ihre Familie zerbrechen lassen will.
In einer der stärksten Szenen des Films soll die Familie für die regimekritische Presse fotografiert werden. Der Reporter bittet darum, doch vielleicht auf dem Foto nicht zu lächeln. Wir verstehen sofort, welches Narrativ der Journalist schaffen will. Wiederum ohne viel Dialog, wird das Lächeln von Eunice und ihren Kindern zu einem offenen Lachen. Diese Familie, die seit dem Verschwinden des Ehemanns und Vaters sicher nicht viel zu lachen hatte, zeigt Stärke, wenn man sie schwach sehen will. Nach einem bewegenden Epilog, werden wir Bilder der echten Familie Paiva zu sehen bekommen. Darunter wird uns auch das tatsächliche Pressefoto mit der echten lachenden Familie Paiva eine wichtige Botschaft vermitteln.
Sao Paolo 2014
Walter Salles zeigt uns all das in unaufdringlichen und doch eindrucksvollen Bildern. Kamera. Schnitt, Ton und Ausstattung bilden eine homogene Einheit, die den Schauspieler*innen den passenden Rahmen für ihre un-theatralischen und gar nicht dramatischen Darstellungen ganz normaler Menschen in besonderen Situationen bietet. Bei uns kaum bekannte Darsteller*innen wie Seltin Mello als Rubens lassen uns erfahren, in welcher Welt und welcher Zeit ihre Figuren gelebt haben. Die jungen Darsteller der Kinder der Familie Paiva leisten Erstaunliches. Sie spielen stets realistisch und nachvollziehbar und liefern so nicht nur den Hintergrund, sondern auch die Motivation für die starke Hauptfigur.
Auch Hauptdarstellerin Fernanda Torres verzichtet in ihrer Darstellung auf so viele längst langweilig gewordene Muster und Klischees, derer sich andere Schauspieler*innen immer noch und immer wieder bedienen. Stattdessen lässt sie uns das große Drama in kleinen Veränderungen erfahren. Wie Torres die Art zu sprechen und die Haltung von Eunice im Lauf der Handlung verändert, vermittelt uns die Entwicklung dieser Figur sehr viel feiner und doch eindrucksvoller als Dutzende große Gesten oder Monologe.
Diese Eunice muss sich beherrschen, muss ihr Leben und das ihrer Kinder in die Hand nehmen und Entscheidungen treffen. Das erkennen und das fühlen wir, wenn sie beim Vorlesen eines Briefes der Tochter zögert, aber auch wenn sie in einer Kirche kaum Rücksicht auf den Ort oder die Ängste ihrer Gesprächspartnerin nehmen kann. In einer späten Szene sehen wir Eunice nicht einfach älter, sondern gereift.
Fernanda Torres zeigt hier nicht einfach nur die beste, sondern auch die subtilste und differenzierteste darstellerische Leistung des Jahres. Jede der für den Oscar als beste Hauptdarstellerin nominierten Damen hat einen sehr guten Job gemacht. Aber verglichen mit Fernanda Torres haben Mikey Madison Boulevard-Theater gespielt und Cynthia Erivo opera buffa. Und so sehr ich Demi Moore schätze und ihr den Oscar gönnen möchte, verglichen mit der Leistung von Fernanda Torres hat Frau Moore in „The Substance“ eine Zirkusnummer zum Besten gegeben, mutig und eindrucksvoll aber ungefähr so subtil wie eine menschliche Kanonenkugel.
Fernanda Torres hat uns die Entwicklung eines echten Menschen über Jahre und Jahrzehnte erfahren lassen. Im bereits erwähnten Epilog wird die greise Eunice im Kreis ihrer Familie sehr bewegend von Fernanda Montenegro dargestellt, der leiblichen Mutter von Fernanda Torres.