Und dann eines Tages …
Wie erwähnt, hat Hazanavicius versucht, seinen Film wie ein Märchen zu gestalten. Die Frau ist kreuzbrav und grundgütig und betet zu den „Göttern des Zuges“. Der Holzfäller erkennt, woher das Kind stammt und will es nicht im Haus haben, weil das Kind einem „herzlosen Volk von Dieben“ angehört, das „Jesus ermordet“ hat. Zeilen wie „Die Herzlosen haben kein Herz“ lassen erkennen, Dialog zu schreiben ist nicht die größte Stärke des Drehbuchautors Hazanavicius. Praktisch der gesamte Dialog des Films klingt naiv und pathetisch und erklärt immer wieder, was man besser im Bild gezeigt hätte.
Die Hauptfiguren agieren so übertrieben naiv, dass es teilweise einfach nur noch einfältig wirkt. Eine Figur wird zum Guten bekehrt, weil sie u.a. den Herzschlag eines Löffels und eines Zauns zu spüren meint. Im späteren Verlauf der Handlung erscheint der Tod eines guten Menschen absolut vermeidbar und wirkt dadurch weniger tragisch als leider nur dumm. Mit dieser märchenhaft naiven Haltung seiner Figuren erweist Hazanavicius seinem Film einen Bärendienst. Denn die vielen Menschen, die Juden und Vertreter anderer verfolgter Gruppen während des Holocaust unter Einsatz ihres eigenen und des Lebens ihrer Familien geholfen haben, waren keine naiven Märchengestalten.
Unter den Tausenden Mördern des Dritten Reiches, seinen Hunderttausenden Mitläufern und den Millionen Menschen, die vor Angst hilflos waren, gab es einige wenige, die bewusste, mutige Entscheidungen getroffen haben. Sie hatten der überwältigenden Maschinerie der Grausamkeit nur ihre eigene Güte entgegenzusetzen. Sie waren die Bewahrer der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten. Sie achtzig Jahre später in einem Film als naive, fast dümmliche Figuren darzustellen, ist im höchsten Maße problematisch und ehrt das Andenken dieser großartigen Menschen nicht im Geringsten.
Weitere Entscheidungen der Filmemacher führen zu ähnlichen Ergebnissen. Eine Szene, in der es wirkt, als wären die Schreie von deportierten Juden für ihre Nachbarn und Mitbürger nicht zu hören gewesen, kann sehr leicht missverstanden werden. In einer gruseligen Sequenz werden die Gesichter der im KZ Ermordeten als verzerrte Fratzen gezeigt, die kaum noch als menschlich zu erkennen und nicht zu unterscheiden sind. An der Stelle möchte man Michel Hazanavicius anschreien! Die Opfer des Nationalsozialismus hatten alle ihre eigenen Gesichter! Sie waren eben keine anonyme Masse! Hier wurden Millionen von Individuen ermordet! Und es waren ihre Mörder, die sich geweigert haben, sie als Menschen mit eigenen, unterschiedlichen Gesichtern wahrzunehmen.
Ein umständlich konstruiertes Pseudo-Happy End wäre für sich genommen belanglos. Der Off-Text, den man den Erzähler (im französischen Original der 2022 verstorbene Jean-Louis Trintignant) darüber sprechen lässt, macht aus dem Ende aber ein echtes Ärgernis. Der Text beginnt tatsächlich mit den Worten: „Es scheint als wäre diese Geschichte ein Märchen und nichts davon sei tatsächlich passiert …“. Es ist selbstverständlich klar, dass dieser Text nicht so gemeint sein soll. Aber im Jahr 2024 auch nur anzudeuten, der Holocaust wäre Teil eines Märchens und hätte gar nicht stattgefunden, ist die schlimmste der vielen Fehlentscheidungen dieses merkwürdigen Films.